Einblicke in die Pläne der Parteien zu Strukturwandel, abgehängten Regionen und gleichwertigen Lebensverhältnissen
In wenigen Wochen ist es so weit, die Bundestagswahl steht unmittelbar vor der Tür! Per Wahl-O-Mat und Co. kann jede*r Wahlberechtigte herausfinden, welche Partei die eigenen Werte und politischen Positionen am besten vertritt. Während unserer Recherchen für das IfL-Projekt Beyond „Left Behind Places“ stellte sich daher schnell die Frage, ob die etablierten Parteien „unsere“ Forschungsschwerpunkte rund um Strukturwandel, abgehängte Regionen und gleichwertige Lebensverhältnisse als wichtige Themen für die Zukunft unserer Gesellschaft bewerten. Doch findet überhaupt eine Auseinandersetzung mit diesen Themen statt und wenn ja, auf welche Weise? Diese Fragen versuchte ich mit einem Blick in die Wahlprogramme der sechs wichtigsten Parteien zu klären.
Breitbandausbau und Co. endlich auch in Deutschland?
Ausnahmslos alle Parteien sind sich einig, dass der Breitbandausbau endlich flächendeckend erfolgen muss, und setzen sich laut Wahlprogrammen für besseres Internet auf dem Land und überall in Deutschland ein. Einige gehen noch darüber hinaus: Die Grünen fordern im gleichen Atemzug mehr Co-Working Spaces, die ihrer Wähler:innenzielgruppe der jungen Akademikerinnen und Akademiker in Zukunft zugutekommen und für mehr Innovationskraft auf dem Land sorgen könnten. Hier findet sich auch eine der wenigen Gemeinsamkeiten von Bündnis90/Die Grünen mit CDU und CSU in diesem Themenspektrum. Auch die Union macht sich stark für Co-Working Spaces auf dem Land und möchte diese sogar durch sogenannte Heimatagenturen promoten, die jungen Familien die Anreize ländlichen Wohnens schmackhaft machen sollen. Diese sollen vor allem „die Ballungszentren entlasten“.
Die CDU als „Kiez-Macherin“?
Noch am 7. September konnte ich bei der letzten Plenarsitzung des Bundestags live miterleben, wie Paul Ziemiak in einer rhetorisch starken Rede voller Inbrunst behauptete, die CDU würde im Gegensatz zu den Grünen etwas für strukturschwache Regionen und „die Menschen auf dem Land“ tun, während die Anwohnerinnen dieser Regionen von den Grünen völlig ignoriert würden und bei deren Wahlsieg ihren Autoschlüssel direkt mit abgeben müssten. Da ich mich für diesen Beitrag bereits detailliert mit allen Wahlprogrammen auseinandergesetzt hatte, musste ich im Stillen von der Besucher:innentribüne aus vehement widersprechen.
Die CDU hält sich im Gegensatz zu den Grünen bei vielen strukturwandelbezogenen Themen sehr zurück und trifft lediglich vage Aussagen, wie sie gedenkt, gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen. Sie verweist mehrfach auf das unter CDU-Regierung implementierte Programm der „Kultur im ländlichen Raum“ und scheint in Bezug auf programmatische Schwerpunkte für die nächsten vier Jahre zu planen, am von ihr geschaffenen Status Quo weitestgehend festzuhalten. Außerdem ist im Straßenwahlkampf (zumindest in Berlin) besonders auffällig, dass die CDU sich sehr auf kleine regionale Missstände fokussiert. So ist etwa im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf zu beobachten, dass die CDU-Kandidaten sich als „Kiez-Macher“ inszenieren, die bessere Lebensbedingungen durch den Bau eines Freibades und die Renovierung von Schulen erreichen wollen.
Auch SPD und FDP halten sich weitgehend bedeckt, was konkrete Vorschläge zur Behebung von Ungleichheiten in den Lebensverhältnissen ihrer Wähler:innen angeht.
Die Grünen und auch Die Linke hingegen liefern seitenweise Ideen, wie bestehende Ungleichheiten in strukturschwächeren Regionen in Zukunft angegangen werden können: Beide Parteien fordern beispielsweise (mehr) soziale Zentren für Jung und Alt in abgehängten Regionen, damit dort, wo immer mehr Infrastruktur verlorengeht, wieder neue Synergien entstehen können und sich ein Gemeinschaftssinn entwickeln kann, wo er bereits abhandengekommen ist. Die Linke macht bereits konkrete Finanzierungsvorschläge: So soll die bisherige Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftssteuer umgewandelt werden. Auch die Grünen fordern in diesem Zusammenhang Regionalbudgets, die in ihrem Programm „Orte des Zusammenhalts“ genutzt werden sollen, und möchten konkret die regionale Daseinsvorsorge im Grundgesetzt verankern.
Deutlich wird beim Lesen der Programme, dass beide Parteien ähnliche Ziele bei der Thematik verfolgen, jedoch mit teils unterschiedlichen Ansätzen: Der Fokus der Grünen liegt klar auf der ökologischen Transformation abgehängter Regionen, während für Die Linke soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung in nahezu allen Bereichen eine Rolle spielt.
Wie steht’s um die Mobilität?
Gerade in strukturschwachen Regionen sind eingeschränkte Fortbewegungsmöglichkeiten ein großes Problem. Das haben auch alle Parteien, mit Ausnahme der FDP und AfD, erkannt und liefern unterschiedliche Ideen zum Umgang damit. Die CDU wünscht sich Reallabore, die bessere Mobilitätskonzepte für abgehängte Regionen entwerfen sollen, während Linke, SPD und Grüne eine Mobilitätsgarantie für alle fordern. Die Grünen wollen zusätzlich bessere Fahrradweginfrastrukturen in kleineren Orten schaffen.
Gesundheitliche Infrastruktur
Ausnahmslos alle Parteien fordern eine bessere gesundheitliche Versorgung strukturschwacher Gegenden und erkennen den Schwund an Ärzt:innen und Krankenhäusern in vielen Regionen der BRD als eines der größten Probleme abgehängter Regionen an. SPD, Linke und Grüne setzen sich in ihren Programmen für lokale Gesundheitszentren ein, die den Bedarf an medizinischer Grundversorgung sichern sollen. CDU und FDP wollen das Problem durch mehr Innovation im Gesundheitssektor angehen. Wie genau die Umsetzung aussehen soll, wird nicht erläutert, Unterstützung für die Kommunen wird aber zugesagt.
Was sagt die AfD?
Beim Studieren des AfD-Wahlprogramms fiel mir auf, wie wenig sich die Partei eine Thematik zu eigen macht, von der ich ausging, sie würde genau in ihr Raster passen. Vorab vermutete ich, dass gerade die AfD als „Partei des Heimatschutzes“ sich ausgiebig der Abgehängtheit des „Kleinen Mannes“ widmen würde, aber ich fand nur wenige kurze Passagen im doch sehr umfangreichen Wahlprogramm von 200 Seiten vor:
„Mit einer traditionsbezogenen, familienfreundlichen und selbstbewussten Gestaltung des ländlichen Lebensraumes wollen wir unsere Heimat wieder ins Gleichgewicht bringen. Zur Sicherung der kommunalen Eigenverantwortung werden wir das Finanzvolumen und die Handlungsspielräume der Gemeinden deutlich vergrößern.“ (Seite 192 des AfD-Wahlprogramms)
Die AfD fordert zwar die „Wahrung regionaler Identität“, doch wie genau diese gewahrt werden soll, bleibt weitgehend unklar – bis auf eine für die AfD übliche Forderung nach mehr direkter Demokratie zur „Bewahrung regionaler Kultur“, weniger Einfluss durch die EU und mehr kommunale Selbstverwaltung. Möglicherweise verpasst die AfD damit in einigen Regionen die Chance, gemäßigtere konservative Wähler:innen anzusprechen und sich ein weiteres Mal als Protestpartei der Abgehängten zu inszenieren.
Framing der Parteien zu gleichwertigen Lebensverhältnissen
Auffällig ist, dass alle Parteien ein ähnliches Vokabular nutzen, um die Problematik der Peripherisierung zu beschreiben, ohne jemals das Wort selbst zu nutzen oder eine tiefergehende Analyse der dahinterstehenden strukturellen Problematik zu liefern. Vielmehr wird durchweg von einer „Angleichung der Lebensverhältnisse“ gesprochen, bis auf vereinzelte Hinweise in den Wahlprogrammen der Linken und Grünen. Es wird suggeriert, dass ein bestimmter Status Quo in einigen Regionen Deutschlands existiert, den die strukturschwachen Regionen anstreben sollen. Gleichzeitig wird verhindert, einzelne Regionen durch das Label „abgehängt“ zu stigmatisieren und den Unmut der Wählerinnen und Wähler auf sich zu ziehen.
Meine Bilanz
Nach eingehender Lektüre aller Wahlprogramme stelle ich fest: Je weiter links eine Partei im politischen Spektrum steht, desto mehr konkrete Botschaften und Verbesserungsvorschläge enthält das Programm in Hinblick auf die Lebenswelten von Menschen in strukturschwachen Regionen. Während die Parteien links der Mitte mit neuen Fonds und Steuerumverteilungen regionale und soziale Ungleichheiten verringern wollen, setzen die Parteien rechts der Mitte vorrangig auf Innovation und gewichten die Thematik weniger stark. Alle Parteien sollten sich jedoch meines Erachtens intensiver mit den Gründen für derart unterschiedliche Lebensverhältnisse in Deutschland auseinandersetzen. Dies wird ihnen einen tieferen Blick in die Problemfelder und potenzielle langfristige Lösungsansätze eröffnen, die es abseits von Wachstum und bloßem Angleichen an die Lebensverhältnisse vermeintlicher Vorzeigeregionen zu entdecken gibt.
Es bleibt also spannend: Welche neuen Mehrheiten werden sich am 26. September bilden und wie werden sie die Debatten zu gleichwertigen Lebensverhältnissen und Co. führen? Was wird sich konkret verändern und werden einige der Wahlversprechen in Bezug auf abgehängte Regionen erfüllt? Fortsetzung folgt hier im IfL-Blog …
Leonie Gränert arbeitet seit 2019 als Wissenschaftliche Hilfskraft für verschiedene Projekte in der Abteilung Regionale Geographie Europas am IfL. Aktuell ist sie im Projekt Beyond „Left Behind Places“ angestellt.