Streit um Zustimmung bei der Organspende – Was kann geografische Forschung beitragen?

© Thorben Wengert / PIXELIO

Die Notwendigkeit einer Neuregelung der Organspende wird hierzulande damit begründet, dass die im europäischen Vergleich niedrigen Spenderaten bei gleichzeitig länger werdenden Wartelisten zu vielen unnötigen Todesfällen führen und ethisch nicht akzeptable Lösungen begünstigen könnten, etwa den Kauf einer Spenderniere im Ausland.

Im April dieses Jahres trat bereits ein Gesetz in Kraft, das die finanzielle Ausstattung von Krankenhäusern und die Zuständigkeitsregelung in puncto Organspende und Transplantation verbessert. Gesundheitsminister Jens Spahn wirbt zudem aktuell für eine doppelte Widerspruchslösung. Danach würde jede Person, die zu Lebzeiten einer Organspende nicht explizit widersprochen hat, im Falle des Hirntodes als potenzieller Organspender gelten. Ein konkurrierender Gesetzvorschlag aus Kreisen der FDP, Linken und Grünen möchte die bisherige Zustimmungslösung beibehalten und dazu ein Onlineregister einführen. Dort könnte jeder selbst eintragen, ob sie oder er zur Spende bereit ist oder nicht. In beiden Gesetzvorschlägen sollen die Familienangehörigen grundsätzlich konsultiert werden.

Im Bundestag fand hierzu am 26. Juni 2019 eine Debatte statt. Es ging um die Frage, wie weit der Staat in die Entscheidungen der Bürger eingreifen darf – oder was andere Länder unternommen haben, um die Organspenderaten zu verbessern. Diskutiert wurde zudem, ob man besser in Personal und klinische Strukturen investieren sollte, statt das bisherige Zustimmungssystem zu ändern. Die parlamentarische Abstimmung zur Zustimmungslösung soll nach den Konsultationen mit Sachverständigen im Gesundheitsausschuss des Bundestages noch in diesem Jahr erfolgen.

Was sagen die Fachleute?

Am IfL haben wir uns im SFB-Projekt Grenzüberschreitende Assemblages medizinischer Praktiken einmal genauer angeschaut, wie Transplantation und Organspende in anderen europäischen Ländern organisiert sind, und mit rund 130 Experten aus mehr als 30 Ländern gesprochen. Fazit: Organspende ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses, in dem persönliche Einstellungen, familiäre Dynamiken, klinische Praktiken, gesetzliche Regelungen, öffentlichkeitswirksame Darstellungen und zum Beispiel auch finanzielle Restriktionen zusammenwirken. Nur wenn alle Faktoren fein justiert wurden, wenn Menschen sich informiert und in der Familie ausgetauscht haben, genügend Zeit und Geld da ist für die Arbeit am Patienten und mit den Familien, die Medien nicht nur über Skandalfälle berichten und alle Seiten Vertrauen in das Organspendesystem haben – nur dann kann Organspende erfolgreich sein.

Wie kommen wir zur besten Lösung?

Mein Vorschlag: Indem wir uns die Ergebnisse aus jenen Ländern anschauen, in denen eine Widerspruchslösung kürzlich eingeführt wurde, und die Passfähigkeit für den deutschen Kontext prüfen.

Nehmen wir das Beispiel Wales. Dort gilt seit Ende 2015 eine Widerspruchslösung, bei der die Familie trotzdem noch konsultiert wird, um herauszufinden, ob der im Sterben liegende Angehörige nicht doch eine belegbare Entscheidung gegen Organspende getroffen hat. Erste statistische Auswertungen (siehe Noyes et al. 2019) ergaben, dass die Zustimmungsraten unter jenen, die sich registrieren, stiegen, die Zahl der Spender aber fast gleich blieb. Der Grund: In den Fällen ohne dokumentierten Willen sprachen sich die Familien häufiger gegen eine Organspende aus.

Wie würde sich eine Widerspruchslösung in Deutschland auswirken?

Viele unserer Interviewpartner betonten, dass die geringen Spendezahlen in Deutschland auch eine Folge des Transplantationsskandals von 2012 sind. Damals wurde bekannt, dass Ärzte und Kliniken Patientenakten und damit Wartelisten manipuliert hatten. Die Vorfälle sorgen bis heute für Skepsis und Misstrauen bei Patienten und Klinikpersonal.

Ob eine deutsche Widerspruchslösung die Spenderaten erhöht, weiß heute niemand. Aber unsere Forschungen zeigen, dass ein Wechsel von der Zustimmungs- zur Widerspruchslösung ähnlich wie in Wales zu höheren familiären Ablehnungsfällen von Organspende führen könnte. Zudem wäre zumindest kurzfristig mit geringeren individuellen Zustimmungsraten zu rechnen.

Wie könnte es weitergehen?

Sinnvoller als ein abrupter Systemwechsel wäre daher ein schrittweises Vorgehen: Ein erster Schritt könnte ein Onlineregister sein. Zudem sollten die Auswirkungen der seit dem 1. April wirksamen Gesetzesänderung (s. o.) ausgewertet werden. Bleibt der Erfolg aus, käme – als letzter Schritt und nach Erörterung der Gründe – die Widerspruchslösung in Frage.

Organspende ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses (Grafik: F. Meyer)

Links und Literatur

Bundesgesundheitsministerium (19. März 2019): „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der doppelten Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz“. URL: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/O/Organspende/Organspende-Widerspruchsloesung_Gruppenantrag_Spahn_et_al.pdf (abgerufen am 6. November 2019).

Bundesgesundheitsministerium (6. Mai 2019): „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“. URL: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/O/Organspende/Gesetzentwurf_zur_Sta__rkung_der_Entscheidungsbereitschaft_bei_der_Organspende.pdf (abgerufen am 6. November 2019).

Deutscher Bundestag (26. Juni 2019): Stenografischer Bericht 106. Sitzung / Plenarprotokoll. URL: https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19106.pdf (abgerufen am 6. November 2019).

Deutscher Bundestag – Ausschuss für Gesundheit (25.09.2019): Kurzprotokoll der 59. Sitzung. URL: https://www.bundestag.de/resource/blob/660562/60c5aa266bf4efc0fca4ee532671ae40/059_25-09-2019_Organspende-data.pdf (abgerufen am 6. November 2019).

Deutsche Stiftung Organtransplantation (2019): Statistiken zur Organspende im Überblick. URL: https://www.dso.de/organspende/statistiken-berichte/organspende (abgerufen am 6. November 2019).

Meyer, Frank (Angenommen): Scaled regulatory regimes under the global condition. An example from organ transplantation. In: Rao, U.; Marung, S. (Hrsg.): Practises and Processes of Spatialization under the global condition. Berlin.

Noyes, Jane et al. (2019): Short-term impact of introducing a soft opt-out organ donation system in Wales: before and after study. In: BMJ Open 2019, 9:e025159; doi:10.1136/bmjopen-2018-025159.


Frank Meyer arbeitet als Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Geographien der Zugehörigkeit und Differenz am IfL.

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