Wie mobil sind Jugendliche? Einblicke in ein Leipziger Forschungsprojekt

Leaflet / Map Data © OpenStreetMap

I: Wovon hängt das ab, ob du die S-Bahn nimmst oder nicht? 

P: Das kommt darauf an, wie viel Lust ich hab, mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren [lächelt], nein oder halt auch zeitlich [ernst], also die fährt ja nur einmal alle halbe Stunde. Und wenn es halt gerade passt, gucke ich halt auf die Uhr, wie spät es ist und denke mir dann so: Ok, in fünf Minuten kommt die S-Bahn, kannst du mit der S-Bahn fahren. Aber dann bin ich ungefähr genauso schnell, n bisschen langsamer, aber das stört mich dann nicht. Und ansonsten halt, würde ich sagen, wie anstrengend das Training war und ob ich dann Lust hab, die ganze Strecke noch mit dem Fahrrad zu fahren [lacht]. Jug_03

In unserem Forschungsprojekt GeoEtiology – Alltagsmobilität und Raumwahrnehmung von Jugendlichen in städtischen Kontexten geht es um die kleinen und großen Entscheidungen, die Jugendliche täglich treffen: Wie komme ich von A nach B? Wir erforschen Mobilitätsroutinen, die man oft besser als unhinterfragte, zu Selbstverständlichkeiten gewordene Praktiken beschreiben kann denn als bewusst getroffene Entscheidungen. Dazu zeichnen 14- bis 16-Jährige aus Leipzig ihre Wege eine Woche lang mit einem GPS-Tracking-Gerät für die Forschung auf. Im Anschluss spreche ich anhand der entstandenen GPS-Karte in einem Interview mit ihnen über ihr Mobilitätsverhalten.  

Es interessieren uns mehrere Aspekte: Welche Einflüsse prägen das (Fort-)Bewegungsverhalten der Leipziger Jugendlichen? Wer ist besonders von Bewegungsmangel und einem passivem Lebensstil betroffen und warum? Spielt es eine Rolle, in welchem Viertel die Jugendlichen wohnen oder womit sie ihre Freizeit am liebsten verbringen? Was sind Gründe dafür, dass Jugendliche mit dem Auto gefahren werden?

P: Naja, ja, also grade, also zum Beispiel jetzt vom Chor oder so, in erster Linie weil‘s einfach … schneller geht und sicherer ist. (I: mhm) Nicht weil sie jetzt Langeweile hat oder so. (I: mhm). Natürlich ist das auch ne zeitliche Belastung für sie, aber … ja. Es gibt ihr halt auch ne Sicherheit, dass ich gut nach Hause komme und so. Jug_06

Mobiltätsverhalten hat viele Facetten

Der Rahmen, den die Eltern für die Mobilität der Jugendlichen setzen, spielt natürlich eine wichtige Rolle. Generell ist das Mobilitätsverhalten so vielfältig wie die Faktoren, die es beeinflussen, von den  Lagebeziehungen zwischen Wohnort(en) und Schule über Freizeitinteressen, Organisation des Familienalltags bis zu persönlichen Präferenzen und Verfügbarkeiten von Verkehrsmitteln (Scheiner 2019). Gerade bei Jugendlichen ist es spannend, Routinen zu untersuchen, da sie sich altersbedingt in einem Veränderungsprozess befinden können: Selbstbestimmte Freizeitinteressen bilden sich heraus, die Autonomie von den Eltern und die Wichtigkeit der Peergroup nehmen zu. Viele Jugendliche haben zudem getrennte Eltern und organisieren ihr Leben an zwei Wohnorten. Für den Weg zur weiterführenden Schule durchqueren sie teilweise mehrere Stadtviertel, spezifische Hobbies und leistungsorientierte Sportarten können nur an bestimmten Orten in der Stadt ausgeübt werden. Dadurch werden die Routen länger. Viel unterwegs zu sein wird von diesen Jugendlichen in Kauf genommen, dabei planen sie die Wege möglichst effizient und suchen sich Verkehrsmittel entsprechend aus.

Bisher habe ich mit 24 Jugendlichen gesprochen. Die Mehrheit von ihnen war im Gegenteil zum alarmierenden Diskurs über Bewegungsmangel sehr aktiv unterwegs: von einem Hobby zum anderen fahrend, sportaffin, überzeugt vom Fahrradfahren oder aus Spaß weite Strecken zu Fuß unterwegs. Sicher kann man diese Ergebnisse nicht einfach verallgemeinern. Denn diejenigen, die an der Studie teilnehmen, gehören vermutlich eher zu den aktiveren Jugendlichen. Die Stubenhockerinnen und Stubenhocker unter ihnen dürfte man schwer dafür gewinnen können. Doch auch mit Jugendlichen, die sich eher als „zuhauseorientiert“ bezeichnen, haben wir gesprochen, darunter ein paar Gamer.

Für mich als Forscherin war es interessant, in eine mir bisher relativ unbekannte Welt – die virtuelle Gamingwelt – mitgenommen zu werden. Mit Blick auf das New Mobilities Paradigm (Sheller & Urry 2006) können wir diese Art der Freizeitbeschäftigung als virtuelle Mobilität bezeichnen. Dabei sind die Jugendlichen durchaus sehr viel unterwegs, jedoch leider nicht körperlich:

Das ist so ne Art …, ist auch so ein Open World Spiel (I: Hmm), das spielt auch in so einer großen Welt, wo man halt frei rumlaufen kann und so (I: Hmm) […] Ich mache das auch im Forza Horizon 4 ganz gerne, dass ich dann halt immer versuche, so möglichst krasse Stunts so möglichst realistisch so nachzuahmen und so. […] Das ist das Gute an Videospielen, find ich, dass die … einem Möglichkeiten bieten, sich zu entfalten, ohne wirklich jetzt schwer was lernen zu müssen. Jug_10

Positiv festzuhalten ist, dass es durchaus ein Problembewusstsein für Bewegungsmangel zu geben scheint und einige dem motorisierten Individualverkehr in der Stadt kritisch gegenüberstehen. Dennoch spielen für die vielbeschäftigten Jugendlichen auch pragmatische Überlegungen und Komfort eine Rolle, wenn es darum geht, den durchgetakteten Alltag möglichst effizient zu organisieren – notfalls auch mithilfe des Elterntaxis. Für Jugendliche aus marginalisierten Kontexten, die weniger feste Hobbies haben und deren Eltern vielleicht kein Auto besitzen, ist diese Frage nicht relevant. Sie fragen sich eher, wo es Freizeitangebote gibt, die sie auch ohne finanzielle Ressourcen besuchen können.

Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden

In unserem Forschungsansatz wechseln sich Literaturstudium, Erhebung und Auswertung miteinander ab. Im Moment bin ich in einer intensiven Auswertungsphase. Erkenntnisse wie „Jugendmobilität hat vielfältige Einflussfaktoren, die miteinander in Wechselwirkung stehen – es ist also komplex“ werden verfeinert um die Frage, was sich dennoch festhalten lässt, wo sich Typologien herauskristallisieren und wo Verbindungen zwischen den einzelnen Interviews gefunden werden können. Dabei ist für das Projekt nicht nur relevant, welche Routinen die Jugendlichen haben, sondern auch wie sich diese ändern und verändern lassen, um langfristig zu einem bewegteren Lebensstil beizutragen. Weitere Ergebnisse zum Bewegungsverhalten und zum Gesundheitszustand tragen die Kolleginnen und Kollegen des Leipziger Forschungszentrums für Zivilisationserkrankungen (LIFE Child-Studie) der Universitätskinderklinik Leipzig bei, mit denen wir in diesem Projekt kooperieren.


Verena Ott hat Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte in Leipzig und Rom studiert. Seit 2015 ist sie als Wissenschaftlerin am IfL sowie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich unter anderem mit Stadträumen aus interdisziplinärer Perspektive und Fragen der Migrationsgesellschaft.

, , ,