Coronavirus-Karten oder die Schwierigkeit, Daten richtig zu visualisieren

Quelle: MDR Sachsen-Anhalt

Es war Anfang Februar – das Coronavirus SARS-CoV-2 grassierte in China, genauer gesagt in der Millionenmetropole Wuhan in der Provinz Hubei. Die Nachrichten waren voll mit Zahlen über Infizierte und Tote. Da wunderte sich einer unserer Kollegen: Warum gibt es eigentlich keine Karten dazu? Vor allem die sonst so stark mit visuellem Material arbeitenden Nachrichtenportale und TV-Sender berichteten weitgehend ohne Karten. Nur wenige Tage später änderte sich das Bild aber grundlegend. Spätestens seit der Ausbreitung des Virus in Italien und dann auch in ganz Europa konnte man das Gefühl bekommen, nicht nur mit Zahlen, sondern auch mit Karten und Grafiken regelrecht zugeschüttet zu werden. Inzwischen sind auch diverse Übersichten entstanden, beispielsweise auf designtagebuch.de.

Was zeigen die Karten eigentlich?

Mit Blick auf die nun tägliche Flut an Daten und Karten in den unterschiedlichen Medien stellt sich die Frage: Was zeigen uns solche Karten und Visualisierungen eigentlich? Welches Raumbild wird da vermittelt und was macht das mit uns?

Zunächst einmal: Aus kartographischer Sicht gibt es gelungene Beispiele und weniger gelungene Beispiele. Eine gelungene Karte bemisst sich dabei an der Methode, mit der Daten visuell umgesetzt werden, abhängig von der Art der Daten, aber auch abhängig vom Ziel der Aussage. Gerade die Macher von Karten müssen aber vor der Veröffentlichung ein Bewusstsein dafür entwickeln, welche Wirkungen die Darstellungen auf verschiedene Nutzergruppen entfalten.

Leider wird gerade bei den weniger gelungenen Beispielen der oftmals unkritische Umgang mit Karten deutlich. Karten können heute von fast jedem/r hergestellt werden. Aus unseren Forschungen wissen wir jedoch, dass sowohl Produzenten oder Anbieter von Karten als auch ihre Nutzerinnen und Nutzer selten die Wirkung von Kartendarstellungen aktiv hinterfragen. Gerade ungeeignete Darstellungsweisen können und werden vielfach falsch interpretiert, was zu Angst und Panikreaktionen führen kann. Ganz deutlich möchte ich aber sagen: Darstellungsfehler sind in aller Regel auf mangelnde kritische Reflexion zurückzuführen, nicht auf absichtliche Fehlinformation! Und, als Kartographin stehe ich dafür, mit Karten zu kommunizieren und Wissen zu vermitteln.

Auf die Bezugsgröße kommt es an

Am Beispiel von Leipzig – dem Sitz unseres Forschungsinstituts – oder auch der Landkreise Zwickau und Greiz lassen sich die Auswirkungen unterschiedlicher Darstellungsvarianten derzeit gut nachvollziehen. Ein solcher Vergleich erfolgt hier beispielhaft anhand von Karten des MDR Sachsen-Anhalt und vom Robert-Koch-Institut (RKI). In Leipzig gab es am 25. März (nach den Angaben des RKI) 218 bestätigte Corona-Fälle, im Landkreis Zwickau waren es 225 und im Landkreis Greiz 86. Was zeigen die Karten nun eigentlich?

Die MDR-Karte (Abbildung 1) visualisiert absolute Fallzahlen auf einer statistischen Bezugsfläche, den administrativen Einheiten. Was auf den ersten Blick unproblematisch erscheinen mag, ist es in Wahrheit in höchstem Maß, wird doch damit eine Gleichverteilung des Phänomens über die Fläche angenommen. Tatsächlich beziehen sich die Fallzahlen jedoch nur auf die besiedelte Fläche, was besonders hinsichtlich ländlich geprägter Räume zu Fehlschlüssen führt. Dies wiederum hat zur Folge, dass ein spontaner und realistischer Vergleich der dargestellten Werte nicht mehr möglich ist, denn große Flächen werden bei gleicher Färbung als „mehr“ (von etwas) wahrgenommen als kleine Flächen. Das heißt, selbst bei gleicher Fallzahl scheint es im Landkreis Zwickau wesentlich mehr Infektionen zu geben als in Leipzig, einfach aufgrund der visuellen Fehleinschätzung durch die größere Fläche. Im Sinne einer möglichst objektiven Information an die breite Öffentlichkeit ist zudem auch die Nutzung der roten Farbskala kritisch zu bewerten: Rot signalisiert Gefahr und kann Angstzustände auslösen oder verstärken.

Abbildung 1: Die Karte der bestätigten Coronavirus-Infektionen in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen (Fallzahlen gesamt; Datenstand 25.03.2020) visualisiert absolute Infektionszahlen auf der Kreisfläche. Quelle: MDR Sachsen-Anhalt (Zugriff: 29.03.2020, 9:45 Uhr)

Für eine einigermaßen realistische Einschätzung von Unterschieden und den Vergleich zwischen Regionen ist nur eine kombinierte Darstellung aus absoluten und relativen Werten sinnvoll. Da dies jedoch oft in sehr komplexen Darstellungen mündet, hilft es zunächst auch, die Fallzahlen in Beziehung zu einer relevanten statistischen Bezugsgröße wie beispielsweise der Bevölkerungszahl zu setzen. Der Einfachheit halber werden die so relativierten Zahlen meist wieder in der Fläche dargestellt, auch wenn dies zu ähnlichen Wahrnehmungsproblemen führt, wie oben angesprochen.

Das Robert-Koch-Institut (Abbildung 2) setzt in seiner Karte die Zahl der Coronafälle in Beziehung zur Einwohnerzahl und nicht zur Fläche. Die für eine realistische Einschätzung der Lage notwendigen absoluten Zahlen sind immerhin in einem Tooltip hinterlegt und nach dem Anklicken der Flächen sichtbar.

Abbildung 2: Der Kartenausschnitt zeigt die Zahl der COVID-19-Erkrankungen je 100.000 Einwohner. Quelle: Robert Koch-Institut, Zugriff: 29.03.2020, 9:47 Uhr).

Im Vergleich beider Karten wird deutlich, dass diese Zahlen ganz anders zu interpretieren sind: Leipzig weist bei 587.857 Einwohnern 37,08 Fälle je 100.000 Einwohner auf, im Landkreis Zwickau kommen bei 317.531 Einwohnern 70,86 Fälle auf 100.000 Einwohner und im Landkreis Greiz bei 98.159 Einwohnern 87,61 Fälle auf 100.000 Einwohner (Daten laut RKI). Leipzig ist also – bezogen auf seine Einwohnerzahl – gar nicht so stark betroffen, wie es auf der MDR-Karte erscheint. Immerhin ist im Schnitt in Leipzig „nur“ ein Mensch von 2697 infiziert, im Landkreis Zwickau dagegen einer von 1411 und im Landkreis Greiz sogar einer von 1141. Im Sinne der Nutzung von Karten bspw. für die Analyse und Planung von medizinischen Kapazitäten und der Entwicklung des Ausbreitungsgeschehens ist aber auch hier die Frage, wie diese Darstellungsmethode auf den Betrachter wirkt. Ähnlich wie oben ausgeführt, werden auch hier die auf eine Bevölkerungszahl bezogenen Fallzahlen auf inhomogenen administrativen Flächen gezeigt. Dies führt letztlich zu ähnlichen Wahrnehmungsverzerrungen, da weiterhin bei gleicher Färbung große Flächen als mehr wahrgenommen werden als kleine Flächen.

Noch genauer, wenn auch weniger plakativ, ist es, die absoluten Fallzahlen mittels unterschiedlich großer Symbole (Kreisdiagramme) darzustellen. Allerdings wird beim Vergleich der Karten der Johns-Hopkins-Universität (Abbildung 3) und der WHO (Abbildung 4) ein anderes Interpretationsproblem deutlich. Abgesehen davon, dass beide Darstellungen unterschiedliche Daten verwenden, machen unterschiedliche Klasseneinteilungen (sichtbar in den Legenden der Karten) einen Vergleich fast unmöglich. Dazu kommt, dass die WHO-Karte die Daten streng auf die Nationalstaaten bezogen zeigt, lediglich für China ist das Hinzuschalten von Provinzen möglich. Die Karte der Johns-Hopkins-Universität benutzt jedoch verschiedene Bezugsflächen. Größtenteils werden die Daten auf der Ebene der Nationalstaaten dargestellt, allerdings werden für China die Provinzen und für die USA die Countys als Raumebene genutzt. Dies führt quasi zu einer Zersplitterung der Visualisierung. Darin kann man natürlich das berechtigte Bestreben sehen, für das eigene Land eine möglichst exakte Datenbasis und Informationsquelle zu schaffen. Als Weltkarte angelegt und „gelesen“, vermittelt sie aber ein uneinheitliches Bild. Vergleiche zwischen den Staaten und Regionen sind so nicht mehr möglich.

Abbildung 3: Die Karte der Johns-Hopkins-Universität (Ausschnitt) zeigt die weltweiten Fallzahlen, kumuliert nach Staaten. Für China und die USA werden die Zahlen jedoch auf regionale Einheiten bezogen, was eine Interpretation der Karte erschwert. Quelle: Johns-Hopkins-Universität (Zugriff: 29.03.3030, 9:50 Uhr).
Abbildung 4: Auch die Karte der WHO (Ausschnitt) basiert wie viele andere Karten auf einer Entwicklung von ESRIs ArcGIS. Diese Karte zeigt die weltweiten Fallzahlen konsequent mittels größengestufter Kreise auf der Basis der Nationalstaaten. Quelle: WHO (Zugriff: 29.03.2020, 9:52 Uhr).

Die Fallzahlen in Kreisdiagrammen darstellen? Das schafft auch die Berliner Morgenpost (Abbildung 5) eindrucksvoll. Sowohl auf der Karte als auch in Diagrammen werden Infektionszahlen, Genesungen (soweit verfügbar) und Todesfallzahlen miteinander kombiniert. Dazu zeigt die Karte über eine manuell bedienbare Zeitleiste auch die Veränderung der Fallzahlen seit Ende Januar. Gerade Letzteres fehlt in vielen tagesaktuellen Berichten, denn erst die Entwicklung im Zeitverlauf macht deutlich, warum die drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens derzeit notwendig sind. Allerdings ist auch diese Karte nicht perfekt. Auch hier werden unterschiedliche Bezugsflächen benutzt, was die Interpretation zu einer Herausforderung macht oder mindestens ein kritisches Hinterfragen erfordert. Aus Sicht der Karteninterpretation kommt hinzu, dass das visuelle Gewicht vor allem der roten Kreise durch die Integration der Genesungen und Todesfälle variiert. So scheint es, als gäbe es in Nordrhein-Westphalen mehr Infizierte als in Frankreich. Denn obwohl der Kreis deutlich kleiner ist, interpretiert das Gehirn nur die sichtbaren roten Flächen, und die wirken bei Frankreich als Ring kleiner. Zwar bietet die Webseite unter „Weiter Informationen zur Methodik“ eine Erklärung: „Bei den bestätigten Fällen handelt es sich um sämtliche bislang gemeldeten Fälle in dem jeweiligen Land oder Bundesland. In dieser Gesamtzahl sind auch die Infizierten enthalten, die wieder als gesund gelten – also von einer Erkrankung genesen oder wieder frei vom Coronavirus sind. Auch die Todesfälle sind Teil des Gesamtwerts aller bestätigten Fälle.“ (https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit/). Unser Gehirn lässt sich in der Wahrnehmung jedoch kaum austricksen. Es ist sehr schwer, sich bewusst zu machen, dass der gesamte Kreis bis zum Mittelpunkt rot sein müsste, und die Karte dann erst zu interpretieren.

Abbildung 5: Die Berliner Morgenpost präsentiert in einer Eigenentwicklung sowohl eine Kombination von Zahlen mittels Kreisdiagrammen als auch die zeitliche Entwicklung des Geschehens. Dadurch lassen sich die Zahlen und die Dynamik besser interpretieren. Quelle: Berliner Morgenpost (Zugriff: 29.03.2020, 9:55 Uhr).

Was lernen wir daraus?

Wir sehen eine Flut von Karten und Daten, die auf die Gesellschaft „losgelassen“ werden. Jede dieser Karten muss aber für sich selbst und jedes Mal neu interpretiert werden. Unabhängig von der Darstellungsform stellt sich zudem die Frage: Was sagen die Fallzahlen überhaupt? Wäre es mit Blick auf die Fragen der Versorgungssicherheit weltweit und national nicht sinnvoller zu wissen, wie viele Menschen aktuell infiziert sind und evtl. einer Behandlung bedürfen? Wie stark also das Gesundheitssystem zum aktuellen Zeitpunkt belastet ist? Dazu kommt, dass keine der Karten ein Bewusstsein dafür schafft, dass die angegebenen Zahlen tatsächlich einen Infektions- und Erfassungszustand vermitteln, der bereits fünf bis zehn Tage zurückliegt. Wie fast immer wird mangels Alternativen auf verfügbare Daten zurückgegriffen, um überhaupt etwas zeigen zu können.

Aber genau das, die Abhängigkeit von Daten und der richtige und bewusste Umgang damit sowie das Hinterfragen, was eine Visualisierung bei der Nutzerin, beim Nutzer auslösen kann, ist eine der Herausforderungen der Kartographie (bereits 2017 hat das IfL in seiner Schriftenreihe „forum ifl“ Empfehlungen zu einer Guten Kartographischen Praxis im Gesundheitswesen herausgegeben, die Herausforderungen bei der Visualisierung von Gesundheitsdaten verdeutlichen und Vorschläge machen). Damit bewusst und kritisch umzugehen, erfordert mehr, als einfach mit verfügbaren Daten Karten zu machen.


Jana Moser leitet die Abteilung Kartographie und Visuelle Kommunikation am Leibniz-Institut für Länderkunde und koordiniert den Forschungsbereich Geovisualisierungen.

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