Die Reduktion von Komplexität: Anmerkungen zur Popularität der Heartland-Theorie Halford J. Mackinders

Am IfL arbeiten zahlreiche Wissenschaftler, die über Drittmittelprojekte finanziert werden. Für einige dieser Vorhaben stellt die Deutsche Forschungsgemeinschaft die erforderlichen Mittel zur Verfügung. Dazu gehört mein eigenes Forschungsprojekt zur Rezeption, Adaption und Popularisierung der Heartland-Theorie Halford J. Mackinders, das seit Februar 2020 für drei Jahre gefördert wird. Das Vorhaben zielt darauf ab, die geistes- und naturwissenschaftlichen Grundlagen der Heartland-Theorie des britischen Geographen Halford J. Mackinder zu erforschen.

Mich interessiert, wie und mit welchen Unterschieden Mackinders geopolitisches und geostrategisches Konzept in Großbritannien, den USA und Deutschland rezipiert und adaptiert wurden. Der Vergleich dient dazu, mehr über die Gründe für die immense Verbreitung und Popularität der Heartland-Theorie im 20. Jahrhundert sowie die Popularisierung akademischer Konzepte insgesamt herauszufinden: Welche Bedingungen förderten die Popularität der Theorie unter Geographen, Historikern und Politikwissenschaftlern bis in die Gegenwart? Welche Instrumente wurden genutzt, um das Konzept in andere Wissensbereiche und die öffentliche Debatte zu transferieren?

Die Grundzüge der Heartland-Theorie

Mackinder entwarf 1904 in einem Zeitschriftenartikel für die Zeitschrift The Geographical Journal der Royal Geographical Society erstmals ein Konzept der globalen Herrschaft, das er später zur „Weltformel“ weiterentwickelte. Ein politischer Akteur könnte danach die Kontrolle über die gesamte Welt erlangen, wenn es ihm gelingen würde eine Region zu beherrschen, die durch ihre schiere Größe von außen uneinnehmbar wäre und es demzufolge jedem Angreifer unmöglichen machen würde, militärische Nachschubwege aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig müssten in dieser Region ausreichend Rohstoffe vorhanden sein, um eine autark funktionierende Wirtschaft aufzubauen.

Darüber hinaus sei genügend „man-power“ notwendig, also eine hinreichend große Bevölkerung, mit deren Hilfe die Produktivität der aufzubauenden Industrie beständig erhöht werden könnte. Eine solche Region bezeichnete Mackinder als Pivot Area of History. Das bedeutet, dass diese Region zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte werden würde, weil sich mit deren Beherrschung das politische Schicksal der Welt bestimme ließe. Das Zentrum der potenziell dafür geschaffenen Region lag für Mackinder im nördlichen Asien. Ihre Ausläufer zogen sich bis in die Region des Persischen Golfs, an die Grenze des Himalaya-Gebirges, im Westen bis nach Osteuropa. Im Norden war sie durch den Arktischen Ozean begrenzt und endete im Osten vor den Küstenregionen des Pazifiks (Abb. 1).

H. J. Mackinder: The natural seats of Power (1904)
Abb. 1: The natural seats of Power. Quelle: Mackinder, H. J.: The geographical Pivot of History. In: The Geographical Journal, Vol. 23, No. 4, 1904, S. 421–444, darin: S. 435.

Würde es einer Landmacht gelingen, diese Region als Basis für ein Ausgreifen in die Randgebiete mit dem Ergebnis der Eroberung von Seehäfen an den Küsten des asiatischen und europäischen Kontinents zu nutzen, wäre die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vorherrschende weltpolitische Rolle des Britischen seaborne Empire zugunsten einer aufstrebenden Landmacht in Gefahr. Ausgehend von der Beherrschung Asiens und Europas wäre die Expansion nach Afrika die Folge, was in der Herrschaft über die nach Mackinder aus den drei genannten Kontinenten bestehende „Weltinsel“ resultieren würde. Die weiterführende kausale Kette zur Eroberung der Welt fasste Mackinder 1919 in der von ihm als „Weltformel“ bezeichneten Formulierung zusammen: Who rules Eastern Europe commands the Heartland / Who rules the Heartland commands the World Island / Who rules the World Island commands the World (Halford J. Mackinder (1919), Democratic Ideals and Reality, S. 194)

Die Argumentation der Heartland-Theorie

Mackinder zeichnete in der Heartland-Theorie eine für das britische Weltreich dystopische Zukunft. Er greift dabei kaum auf empirische Daten zurück, sondern beschreibt lediglich kausale Zusammenhänge, die er mit historischen Analogien untermauerte. Natürliche Bedingungen wie ein bestimmtes Klima oder große Rohstoffvorkommen würden zu bestimmten Verhaltens- und Produktivitätsmustern der in der Region lebenden Bevölkerung führen, die sich in deren Kultur verfestigen.

In Bezug auf die Bevölkerung Zentralasiens führte die Analyse Mackinders zu der fragwürdigen Annahme, sie sei aufgrund der Unfruchtbarkeit der Steppenlandschaft mehrmals in der Geschichte dazu gezwungen gewesen, nach Europa zu expandieren. Eben diese einfache, kausale Argumentation bildete die Grundlage für die Popularisierung des Konzepts. Die relative Abstraktheit der Faktoren (Klima, Rohstoffvorkommen etc.) machte es unter anderem möglich, das Konzept von seiner regionalen Bindung an den von Mackinder beschriebenen Raum loszulösen und es auf andere Weltregionen zu übertragen.

Das war die Grundlage für die weltweite Adaption der Heartland-Theorie unter jeweils nationalen Interessen. Wirklich entscheidend für die Popularisierung der Heartland-Theorie waren andere Faktoren: Mackinders Bestreben, seine Theorie in Karten zu visualisieren, und die Veränderungen, die die Luftfahrt während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit sich brachte.

Die Welt als geschlossenes System

Die Welt zu umsegeln, hatte in der Frühen Neuzeit das Bewusstsein für die Kugelgestalt der Erde geschärft; die Eisenbahn hatte den Transport zu Land revolutioniert; aber erst die Luftfahrt verkürzte den Zeitraum zur Überbrückung von Distanzen erheblich. Gleichzeitig schuf sie eine Verbindungsmöglichkeit zwischen den Kontinenten, wodurch die Welt in der Wahrnehmung des Menschen näher zusammenrückte. Mackinders Heartland-Theorie betrachtete die Welt als geschlossenes System, in dem nahezu alle weißen Flecken auf der Landkarte getilgt waren und internationale Beziehungen zwischen den aufstreben Nationalstaaten und bestehenden Empire in einem globalen Bezugsrahmen betrachtet werden mussten.

Erst der Wandel in der Wahrnehmung der globalisierten Welt verschaffte Mackinders Theorie zwischen den beiden Weltkriegen die Aufmerksamkeit, die dem Konzept vorher verwehrt geblieben war. Vor dem Ersten Weltkrieg dachte aufgrund des fehlenden Erfahrungsraums kaum jemand im Weltmaßstab, wie es Mackinder tat.

Popularität durch Visualisierung

Die Veränderungen des Erfahrungsraums durch die Luftfahrt mündeten in neuen kartographischen Perspektiven auf die Welt, die in den USA im Zeitalter des air age beispielsweise durch den Kartographen Richard Edes Harrison umgesetzt wurden. Harrison kannte Mackinders Heartland-Theorie und die berühmt gewordene Karte zur Visualisierung der Theorie (Abb. 1), die Mackinder anfertigen ließ und dem Artikel von 1904 beigelegt hatte. Harrison schuf auf Basis der Karte und der Theorie Mackinders eigene kartographische Adaptionen. Sie begleiteten unter anderem den von Joseph J. Thorndike verfassten Artikel „Geopolitics. The lurid career of a scientific system which a Briton invented, the Germans used and the Americans need to study”, der am 21. Dezember 1942 im auflagenstarken LIFE-Magazin abgedruckt wurde. Insbesondere Harrisons Illustrationen und Karten zur Heartland-Theorie in Zeitschriften wie LIFE und FORTUNE förderten die Breitenwirkung und dadurch die Popularität der Theorie. Gleichzeitig erschienen Bücher und Artikel in Sammelbänden, für die Harrison Karten gestaltete (Abb. 2).

Abb. 2: Richard Edes Harrison, Umschlagseite für Robert Strausz Hupé’s Buch „Geopolitics. The struggle for Space and Power”. University of California, Putnam’s and sons, 1942. Quelle: Harrison, Richard Edes. Richard Edes Harrison maps and papers collection. [1920–1994] Scales differ. approximately 348 maps : some manuscripts, some photocopies, some plastic, some cloth, some color ; in folders 77 x 107 cm or smaller.70 archival boxes (37.5 linear ft.), G3200 coll. H3, Folder 85, Putnam, 1942: Geopolitics (Foto: Oliver Krause)

Die Karten zur Heartland-Theorie dienten als visuelle Referenz der Theorie, um deren grundlegende globale Raumordnung abzubilden. Sie machten ihre detaillierte Beschreibung überflüssig und die Heartland-Theorie einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Mit der Reduktion auf die kartographische Darstellung der augenscheinlichsten Theorieinhalte ging allerdings zunehmend das dazugehörige Hintergrundwissen verloren. Dies begünstigte vollkommen losgelöste Interpretationen der Heartland-Theorie, die bis in die Gegenwart angestellt werden. Die Kartographie war für die Verbreitung der Heartland-Theorie ein sehr hilfreiches Vehikel, für die Bewahrung ihrer inhaltlichen Konsistenz hingegen ein Fluch.


Oliver Krause hat Kulturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Europäische Kulturgeschichte studiert. Der Martin-Behaim-Preisträger der Gesellschaft für Überseegeschichte forscht mit kürzeren Unterbrechungen seit 2017 am IfL.

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