Als die Gauß unter der Leitung des Geographen und Polarforschers Erich von Drygalski am 11. August 1901 den Hafen von Kiel verließ, trugen die dort ankernden Kriegsschiffe Flaggenschmuck. Ein dreifaches „Hurra“ schallte von allen Seiten. Polarforscher waren die Popstars ihrer Zeit. Die Endpunkte der Erdachse zählten zu den letzten unerforschten Regionen der Erde.
Das Forschungsschiff Gauß – ausgestattet mit neuester Technik
Fünf Jahre Vorbereitung fanden ihren Abschluss. Der eigens für die Expedition gebaute 1,5 Millionen Reichsmark teure Dreimastsegler war vollgepackt mit der damals modernsten Technik. Es gab Strom, Zentralheizung, Ventilatoren; eine 325 PS starke Dampfmaschine unterstützte das Fortkommen auf hoher See. Zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib standen der 32-köpfigen Mannschaft an Bord ein Klavier und eine Bibliothek zur Verfügung.


Auf dem Weg ins Unbekannte
Die Reise führte bis Anfang 1902 über mehrere Zwischenstopps zum Kerguelen-Archipel im südlichen Indischen Ozean. Dort traf die Expedition auf eine zuvor errichtete Beobachtungsstation, die mit fünf Männern besetzt war und parallel zur Hauptexpedition Vergleichsdaten sammeln sollte. Am 31. Januar 1902 brach das Schiff mit einigen Wochen Verspätung endgültig nach Süden auf und sichtete am 21. Februar 1902 zum ersten Mal unbekanntes Land. Schon am Tag darauf wurde die Gauß vom Eis eingeschlossen – und sollte erst ein Jahr später, am 8. Februar 1903, wieder freikommen.

Forschung unter extremen Bedingungen
Das Einfrieren war geplant. Die besondere Form des Schiffes verhinderte, dass der Rumpf durch Eisschollen eingedrückt wurde. Nun begann eine intensive Forschungstätigkeit, denn die Zeit drängte. Der polare Winter mit Dunkelheit und Temperaturen bis minus 50 Grad rückte näher. Messstationen wurden aus Brettern gezimmert, Erkundungsfahrten mit Hundeschlitten unternommen, Schleppnetze ins Wasser gelassen, ein bemannter Gasballon zum Einsatz gebracht.


Die Wissenschaftler hatten alle Hände voll zu tun, die geplanten Vorhaben abzuarbeiten. Schon im März 1902 wurde bei einer Schlittenreise in 80 Kilometer Entfernung ein erloschener Vulkan entdeckt und vermessen.

Noch im selben Monat wurden aus einem bemannten Gasballon die ersten Luftbilder der Antarktis aufgenommen. Im Tiefseenetz entdeckte man bisher unbekannte Arten von Glasschwämmen. Erfindungsreichtum und Kreativität gehörte bei der Arbeit im Eis zum Tagesgeschäft. So wurde für die Verankerung eines Schleppnetzes ein Pinguin, dem man eine Leine umgebunden hatte, von einem Luftloch zum anderen gelockt. Um die Kraft der Stürme für die Stromerzeugung zu nutzen, experimentierte man mit einem Windrad. Zur Reparatur des bei der Hinfahrt beschädigten Schiffsruders stieg der Bordzimmermann Willy Heinrich mit einem Helmtauchgerät in das eisige Meerwasser. Als im polaren Frühling die Temperaturen kletterten, die Gauß aber weiter im Eis festsaß, unterstützte die von der Sonne erwärmte schwarze Kohlenasche das Freischmelzen einer Wasserrinne.

In den Monaten der Polarnacht wurde die Mannschaft mit Skatturnieren, Grog-Abenden und Vorträgen über „Unterleibsbrüche“ oder „Die Stabilität von Schiffen“ bei Laune gehalten.

Die Teilnehmer brachten indes nicht nur modernste Ausrüstung und verwegene Ideen an Bord, sondern auch heimtückische Bakterien. Bei Kapitän Hans Ruser zeigten sich durch eine Syphiliserkrankung bedrohliche Persönlichkeitsveränderungen, die Drygalski dazu zwangen, ihn zwei Tage „zur Abkühlung“ für eine Schlittenreise abzukommandieren.

Kampf gegen das Eis und tragischer Verlust: Die Rückkehr der Gauß und das Ende der Expedition
Trotz aller Gefahren und Widrigkeiten kam die Gauß Anfang Februar 1903 aus dem Eis frei, wurde aber, bevor sie Mitte März die offene See erreichte, immer wieder vom Scholleneis eingeschlossen. Im Juni 1903 erfuhr die Mannschaft auf der Zwischenstation im Kapstadt vom Tod Josef Enzensbergers. Er war auf der Kerguelen-Beobachtungsstation in Folge von Vitamin-B1-Mangel verstorben. Es sollte das einzige Todesopfer der Expedition bleiben. Ein Telegramm aus Berlin befahl der Expedition außerdem die sofortige Rückkehr nach Deutschland. Der Etat für die Expedition sei ausgeschöpft. Drygalski hatte im Vorfeld eigentlich eine weitere Überwinterung im antarktischen Raum in Erwägung gezogen.

Am 25. November 1903 erreichte die Gauß ihren Heimathafen in Kiel. Dort war es still, der Kaiser hatte zur Begrüßung lediglich seinen Bruder, Prinz Heinrich von Preußen, geschickt. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, seine Majestät seien verstimmt, weil Drygalski und seine Männer nicht weiter Richtung Südpol vorgedrungen waren.
Wissenschaftlicher Erfolg und bleibende Zeugnisse
Der beachtlichen wissenschaftlichen Leistung tat das keinen Abbruch. Noch bis in die 1930er-Jahre war ein extra eingerichtetes Büro in Berlin mit der Verarbeitung der gesammelten Daten beschäftigt. 20 umfangreiche Buchbände zu Geologie, Zoologie, Magnetismus, Botanik, Meteorologie, Bakteriologie, Ozeanographie und Geographie der Antarktis zeugen von dieser Arbeit. Der Reisebericht Drygalskis, „Zum Kontinent des eisigen Südens“, wurde ein kommerzieller Erfolg.
Für die heutige Forschung ist es ein Glück, dass gleich mehrere Expeditionsteilnehmer die Reise mit Fotoapparaten festhielten. Der Expeditionsarzt Hans Gazert, der Zoologe Ernst Vanhöffen und der Geologe Emil Philippi hatten die Reise nachweislich fotografisch dokumentiert. Sie schossen sowohl Fotos bei der Hin- und Rückreise als auch in der Antarktis. Es sind Aufnahmen vom Alltag an Bord, von den auf der Reise angesteuerten Zwischenzielen und der entbehrungsreichen Zeit in der Antarktis. Hinzu kommen Bilder vom Bau des Forschungsschiffs auf der Howaldtwerft in Kiel.

Digitalisierung und Katalogisierung im IfL-Archiv
Neben Glasnegativen und Papierbildern existieren auch seltene Glasplatten der Expedition, die mit einer stereoskopischen Kamera aufgenommen wurden. Die Sammlung umfasst etwa 1200 Fotografien dieser unterschiedlichen Formate. In den letzten Monaten wurden die Bilder im Archiv für Geographie des Leibniz-Instituts für Länderkunde (IfL) ausgehoben, gesäubert und digitalisiert. Dank der umfangreichen Dokumentation der Expedition (Originallisten, Rückseiten der Papierfotos) war eine Einordnung der Bildmotive nach Ort und Datum fast immer möglich, was die anschließende Katalogisierung erleichterte. Bei den im Onlinekatalog des IfL angezeigten Vorschaubildern wurden durch eine behutsame Anpassung von Kontrast und Helligkeit verblichene Inhalte wieder erkennbar gemacht. Derzeit werden die handschriftlichen Tagebücher des Expeditionsleiters digitalisiert und so der Forschung zugänglich gemacht.
Neben der wertvollen Fotosammlung der ersten deutschen Südpolarexpedition besitzt das Archiv für Geographie auch den Schriftnachlass Drygalskis. Hinzu kommen hunderte unbearbeitete Fotografien seiner vielbeachteten Grönlandexpedition aus den Jahren 1891 bis 1893.

Die Sammlung Drygalski ist damit eine bedeutende Quelle zur Geschichte der deutschen und internationalen Polarforschung und fördert bei seiner Erschließung immer wieder neue Erkenntnisse zu Tage. Der Fotobestand der Gauß-Expedition im Archiv für Geographie ist hier abrufbar.
Das Archiv für Geographie verfügt über weitere Nachlässe und Fotobestände zur Arktis- und Antarktisforschung, die in den kommenden Jahren schrittweise erschlossen und auf modernen Plattformen zugänglich gemacht werden.
Über den Autor

Martin Toste ist Bibliothekar am Leibniz-Institut für Länderkunde. Er betreut die umfangreiche Kartensammlung des Instituts und ist für die Digitalisierung der historischen Archivbestände zuständig.
