Alles online – aber wie? Forschungspraktiken in pandemischen Zeiten

Die COVID-19-Pandemie hat Wissenschaft und Forschung vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Homeoffice und Kontaktbeschränkungen machen uns nicht nur im Alltag zu schaffen, sondern haben auch das Feld, das Forschungsgebiet, die Forschungsteilnehmenden mit einem Schlag in weite Ferne gerückt. In dieser neuen Situation hat sich die Feldforschung, besonders die Datenerhebung, wie so vieles andere ins Internet verlagert. Dank Videokonferenzen, digitalen Whiteboards oder Umfragefunktionen konnten wir partizipative Elemente in die virtuelle Datenerhebung integrieren. Online-Forschung im, zum und durch das Internet ist natürlich nicht neu. Aber sie nimmt jetzt ganz neue Dimensionen an. Einerseits wächst der Druck, auf andere Weise Daten zu gewinnen, andererseits aber auch die Neugierde und die Kreativität, Lösungen zu finden, wie trotz Social Distancing qualitative bzw. partizipative Forschung erfolgreich durchgeführt werden kann.

Vor dieser Herausforderung standen auch wir als Organisationsteam der jährlichen IfL Forschungswerkstatt. Während der Planungen für die siebte Ausgabe standen wir plötzlich vor der Frage, wie unsere Veranstaltung unter Pandemiebedingungen aussehen könnte. Das Thema „Ich mach das jetzt online – Virtuelle Methoden als (neue) Praxis in der raumbezogenen Forschung?“ drängte sich genauso geradezu auf wie die Durchführung im Februar 2021 als Online-Event.

Schöne neue Online-Welt?

In der IfL Forschungswerkstatt #7 drehte sich somit alles um webbasierte Methoden, ihre technischen und ethischen Besonderheiten und möglichen Effekte auf die Auswertungsprozesse. Die Diskussionsbeiträge reichten von Projekten, die von vornherein als Onlineforschung konzipiert waren über pandemiebedingt umgeplante Projekt- und Qualifikationsarbeiten bis hin zu kritischen Reflexionen zum Datenschutz. Unsere IfL-Kolleginnen und -Kollegen Bettina Bruns, Ninja Steinbach-Hüther und Tonio Weicker brachten wertvolle eigene Erfahrungen zur Werkstatt-Thematik ein. Der als Story Map angelegte Erkenntniszeitstrahl zeigt einige Stimmen zur IfL Forschungswerkstatt #7.

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Zusätzlich zur Diskussion in Kleingruppen haben wir offene Formate (Keynote und Abschlussdiskussion) und interaktive Beteiligungsmöglichkeiten ins Programm aufgenommen. Die wichtigsten Ideen und Anregungen der Teilnehmenden haben wir auf einem Online-Board gesammelt. Das Board blieb mehrere Wochen nach Ende der Veranstaltung online.

Online-Board als kollektive Mindmap der Forschungswerkstatt

Virtuell oder online – worüber sprechen wir hier?

Als wir die Forschungswerkstatt planten, war „virtuell“ gefühlt einer der am häufigsten benutzten Begriffe. Und mit der Beliebtheit wächst auch die Kritik an dem Wort. Die Berliner Zeitung schrieb am 20. Mai 2021:

In der nahen Zukunft könnte das Wort „virtuell“ also doch aus der Mode geraten – weil es eine Trennung vornimmt, die uns im Leben immer schwerer fällt. Das Virtuelle klebt dann an der Wirklichkeit wie die Soße an den Nudeln. (…) Die Meetings und die Arbeit werden dabei leider nicht virtuell werden: Die müssen wir machen, die können wir nicht nur simulieren [weiterlesen]

Diesen Gedanken hat Thomas Schmidt-Lux in seiner Keynote aufgegriffen: Anhand eigener Erfahrungen aus einer Studie zu Online-Foren führte er in die Möglichkeiten und Schwierigkeiten von online umgesetzten Forschungszugängen ein, sprach über die Beziehungen zwischen Forschenden und Beforschten und wies auf Aspekte der Authentizität, der Positionalität, der ganz eigenen Logiken von Online-Foren hin.

Solchermaßen sensibilisiert, wurde in den Diskussionen auch der Titel der IfL Forschungswerkstatt #7 kritisch hinterfragt: Ist es sinnvoll, von „Online-Forschung“ oder „virtuellen Methoden“ zu sprechen? Handelt es sich nicht eher um virtuelle Räume, in/zu denen man forscht, und um digitale Methoden, die dabei angewendet werden?

Und tatsächlich bietet die Online-Forschung viele Möglichkeiten: Sie schafft Zugänge zu sensiblen Feldern und spart Geld, zum Beispiel Reisekosten. Die erhobenen Daten sind bereits vielfach verknüpft und aufbereitet, aufwendige Transkriptionen entfallen. Translokale Forschung wird möglich, etwa Gruppendiskussionen mit Personen an verschiedenen Orten, auf unterschiedlichen Kontinenten, in verschiedenen Zeitzonen. Auch ergeben sich neue Forschungsfragen und Hypothesen, andere, innovative Formen der partizipativen Forschung und Bürgerbeteiligung – beispielsweise durch Survey-Tools oder interaktive Visualisierungen. Auch eine Tendenz zur Gamification zeichnet sich ab. In sensiblen oder traumatisierenden Kontexten schaffen Online-Interviews die notwendige Distanz zwischen Forschenden und Forschungskontext; Emotionalisierung wird dadurch reduziert. Auch hinsichtlich der Emotionalität in Online-Diskussionen wurden Vorteile festgestellt, da die Themen von den Beteiligten selbst eingebracht werden, wodurch sich die Frage nach dem Einfluss der Forschenden anders stellt.

Die Klippen der Zugänge: „Ohne Strom und Internet geht nichts“

Neben den Vorteilen der Online-Forschung und virtueller Methoden waren auch die Herausforderungen und Fallstricke Thema der Diskussionen. Auch wenn Online-Forschung, im weitesten Sinn, nicht neu ist, sind virtuelle Methoden und Forschung im, mit dem und zum Internet in den Raumwissenschaften oft noch Neuland. Vieles ist noch unerprobt, Regeln und Praktiken müssen sich erst noch entwickeln, wie die Pins auf dem Online-Board belegen. Der aktuelle „Methodendiskussionsschub“ (Thomas Schmitt-Lux) dürfte langfristige Auswirkungen auf die methodische und methodologische Ausrichtung der raumbezogenen Forschung haben. Die Vorhersage einiger Teilnehmenden, virtuelle Methoden seien gekommen, um zu bleiben, ist angesichts der Vorteile und Potenziale nicht abwegig. Dabei finden sich in der Zukunft hoffentlich auch Lösungen für einige „Klippen“, die in der IfL Forschungswerkstatt #7 diskutiert wurden:

  • Wie lässt sich das Vertrauen der Menschen hinter den Bildschirmen, Smartphones usw. gewinnen? Biografisches Wissen über die „beforschten“ Personen ist online nur schwierig zu gewinnen. In welchem Zustand und mit welcher Intention ein bestimmter Kommentar oder Post verfasst wurde, bleibt vage. Gerade Social-Media-Posts sind oft sorgfältig kuratiert, um ein bestimmtes Bild zu transportieren, und damit weniger authentisch, als man meinen könnte.
  • Wie „online eintauchen ins Feld“? Wie funktioniert „Vorwärtsnetzwerken“ im virtuellen Raum, insbesondere im Ausland oder in Kontexten, in denen man bisher noch keine „Brücken“ ins Feld schlagen konnte?
  • Verluste im Forschungsprozess durch die Flüchtigkeit von Daten, wie können Emotionen erfasst werden? Und: Wie können langfristige Projekte wie Promotionen mit sich ständig veränderndem Datenmaterial durchgeführt werden, wenn diese – man denke an Tweets oder Diskussionsforen – oft ohne Vorwarnung gelöscht werden?
  • Wie beeinflussen technische Parameter die erhobenen Daten, z. B. die Algorithmen von Social-Media-Plattformen? Sind Befragte in Online-Interviews offener oder weniger offen als im persönlichen Kontakt? Wie umgehen mit möglicher Online-Zensur in bestimmten internationalen Kontexten? Welche Tools genießen Vertrauen, welche werden abgelehnt?
  • Von größter forschungsethischer Bedeutung ist die Frage, wie informed consent sichergestellt werden kann. Viele der bewährten Praktiken scheinen auf Online-Datenerhebung nicht ohne weiteres übertragbar zu sein.
  • Und schließlich stellt sich die Frage nach der Reichweite von virtuellen Methoden: Nicht alle Personen, die man befragen möchte, sind online, bei anderen zeigt sich eine Übersättigung durch ständige Videokonferenzen. Die Digitalisierung von Forschung sorgt folglich für neue Ausschlüsse und Ausnahmen, auch durch die ihr eigenen Bedingungen.

Solche „Klippen“ sind freilich nicht unüberwindbar. Manchmal ist, um im Bild zu bleiben, ein kleiner Umweg nötig. Manchmal braucht es Kletterausrüstung und größere Anstrengungen. In jedem Fall nötig sind gute Planung, Flexibilität und Kreativität.

„Ich bin nicht die einzige, die sich darum einen Kopf macht“ – Was nehmen wir mit?

Die zentrale Erkenntnis der IfL Forschungswerkstatt #7 stand eigentlich schon vor Veranstaltungsbeginn fest: Zu Online-Forschungsmethoden gibt es viel Rede- und Austauschbedarf, nicht zuletzt, weil viel Gewohntes, viele Lehrbuchweisheiten zumindest unter Vorbehalt stehen. Das betrifft Fragen der Forschungsethik und des Datenschutzes genauso wie den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses mit den Forschungspartnerinnen und -partnern, aber auch technische Fragen („know your tools“). Aus Sicht der Teilnehmenden lässt sich die Veranstaltung insbesondere mit vier Schlagworten charakterisieren: Inspiration, Flexibilität, Motivation, Methodenvielfalt.

Feedback-Wortwolke

Für die Methodendebatten in den raumbezogenen Wissenschaften ergaben sich einige weiterführende Überlegungen, die als Erkenntnisse aus der IfL Forschungswerkstatt „destilliert“ wurden.:

  • Neues Bewusstsein für forschungspraktische Entscheidungen wird geschaffen durch die vielfältigen Verschränkungen von online/offline. Durch die Beobachtung, was anders ist, werden die Kriterien forschungspraktischer Entscheidungen wieder bewusster, etwa hinsichtlich der neuen Positionierung als Forschende, online/offline-Verschränkungen sowie der Komplexität von Welten/Wirklichkeiten und Raumbezügen.
  • Viel diskutiert haben wir die Frage, ob neue Methoden die alten ablösen werden, oder ob das methodische Portfolio der Raumwissenschaften eher eine Anpassung an eine (verstärkte?) Digitalisierung der Feldforschung erfahren wird. Werden wir von „neuen Methoden“ sprechen?
  • Es braucht neue Methodenliteratur, die sich diesen Fragen widmet. Braucht es auch virtuelle Formate der Methodenliteratur? Kann Gedrucktes mithalten mit den sich dynamisch ändernden Bedingungen?
  • In der Forschung sind die Erfahrensten meistens die „Alten“. Mit der zunehmenden Relevanz von „Online-Forschung“ bekommen junge, medienaffine Generationen eine neue Möglichkeit der Positionierung im wissenschaftlichen Diskurs.

Kein Stühlerücken, keine übriggebliebenen Brötchen, keine Spüleinsätze

Ein Vorteil des Online-Formats war für uns, dass auch wir als Organisationsteam an allen Programmteilen und Diskussionen teilnehmen konnten. Kein Warten auf den Caterer, keine Spüleinsätze für frische Kaffeetassen, kein prüfender Blick auf den Hafermilchverbrauch, keine Umbauten und Lotsendienste zu den Veranstaltungsräumen.

Ungewohnt war auch, dass die Forschungswerkstatt am Mittwochnachmittag quasi auf Knopfdruck begonnen hat und am Freitagnachmittag mit dem Herunterfahren des Laptops genauso abrupt endete. Kein Stühlerücken am Vortag. Auch das Glücksgefühl am Freitagabend, nachdem alle Veranstaltungsräume wieder in den Ursprungszustand zurückversetzt worden sind und das Wochenende beginnt, wollte sich nicht so richtig einstellen.

Gefehlt hat uns eindeutig der Austausch mit den Teilnehmenden in den Kaffeepausen und beim gemeinsamen Abendessen zum Ausklang des ersten Veranstaltungstags. In der Nachbesprechung haben wir zudem festgestellt, dass die IfL Forschungswerkstatt auch mit der fast schon liebgewonnenen Tradition gebrochen hat, kreative Methoden und gute Argumente zu finden, übrig gebliebene belegte Brötchen am Freitagnachmittag loswerden …


Kristine Beurskens ist Koordinatorin der Forschungsgruppe „Geographien der Zugehörigkeit und Differenz“ am IfL

Tim Leibert ist Projektleiter und stellvertretender Koordinator der Forschungsgruppe „Mobilitäten und Migration“ am IfL

Arnisa Halili ist Kulturwissenschaftlerin und studiert im Masterstudiengang „European Urban Studies“ an der Bauhaus-Universität Weimar. Von Dezember 2020 bis März 2021 absolvierte sie ein Forschungspraktikum am IfL, in dem sie sich mit den Auswirkungen des rechtsterroristischen Anschlags vom 19. Februar auf die Stadt Hanau befasst hat.

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