Nachhaltige Wohnraumentwicklung – der Prüforteansatz von Interko2

Die Neuversiegelung von Flächen zu Wohnzwecken hat in den vergangenen Jahren wachsende Aufmerksamkeit erhalten. Nicht ohne Grund, verursachen Neubaugebiete doch hohe ökologische und ökonomische Kosten. Häufig werden sie am Siedlungsrand errichtet, wodurch sie in Konkurrenz mit den Ortskernen treten und diese schwächen können, indem Investitionen in die vorhandene Bausubstanz ausbleiben. Dennoch werden Wohngebiete „auf der grünen Wiese“ als vermeintlich einfache Lösung gesehen, um die angespannten Wohnungsmärkte zu entlasten und gleichzeitig den Bevölkerungsschwund zu stoppen sowie die klammen Kommunalfinanzen aufzubessern. Wie in anderen ländlich geprägten Regionen ist der Flächenverbrauch auch im Umland der Städte Halle (Saale) und Leipzig hoch. Das Wachstum von Leipzig hat Auswirkungen insbesondere auf angrenzende Kommunen. Selbst unter der Prämisse, so viel Bevölkerung wie möglich im (sanierten) Bestand unterzubringen, sehen die Kommunen einen Bedarf zum Ausweisen von Neubauflächen. Doch welcher Flächenbedarf besteht genau? Und wo soll er realisiert werden?

In der Region Halle-Leipzig, die 82 Kommunen und 5 Landkreise bzw. kreisfreie Städte in zwei Bundesländer umfasst, stellen sich diese Fragen mit besonderer Dringlichkeit. Ein Wettbieten der Gemeinden untereinander in der Hoffnung, Bevölkerung und Steuereinnahmen zu gewinnen, birgt die Gefahr eines Überangebots an Flächen, welches die Gemeinden schwächen würde. Das Projekt Interko2 versucht koordinierend zu unterstützen, indem es ein Wohnbauflächenkonzept für die Region Halle-Leipzig entwirft.

In diesem Konzept werden die erwarteten Wohnbauflächenbedarfe für verschiedene Szenarien errechnet und mit den Möglichkeiten im Bestand abgeglichen. So wird versucht, die Frage nach dem Wie viel so genau wie möglich zu beantworten. Neben dem Eigenentwicklungsbedarf, der jeder Kommune zusteht, verbleibt die Frage nach dem Wo, also der Verortung des Zusatzbedarfes. Hier setzten die Prüforte an. Der Prüforteansatz basiert auf der Idee, dass Flächen für zusätzliche Baubedarfe nicht zufällig oder pauschal über- und innerhalb von Gemeinden verteilt werden sollten. Stattdessen werden die Siedlungs- und Versorgungskerne im Untersuchungsgebiet auf ihre Eignung als Wohnbaustandort hin überprüft und nach einem Punktesystem eine Rangfolge gebildet. Ausgehend von den Punktwerten werden die Gemeindeteile dann den Kategorien

  1. Kernorte zur Wahrnehmung von Entwicklungs­funktionen,
  2. Kernorte mit ergänzender Wohnfunktion bis
  3. Kernorte mit Stabilisierungsfunktion

zugeordnet. Kernorte, die die erforderlichen Punkte für die Kategorie 3 nicht erreichen, entfallen aus der Verteilung der Zusatzbedarfe.

Um die Eignung der Orte zu untersuchen, wurden im Austausch mit den regionalen Verantwortlichen eine Reihe entscheidender Merkmale hinsichtlich Erreichbarkeit und Grundversorgung definiert, diese über Indikatoren abgebildet und bewertet. Maximal können dabei 30,5 Punkte erreicht werden. Die höchste Wertung erzielte Markkleeberg mit 30 Punkten.

Erreichbarkeit

Die wichtigste Dimension bei der Bewertung der Prüforte ist die Erreichbarkeit. Insgesamt 12 der 30,5 möglichen Punkte entfallen auf diesen Bereich. Die Erreichbarkeitskategorie beinhaltet die Fahrtdauer zum nächsten Oberzentrum mit öffentlichen Verkehrsmitteln und dem eigenen Pkw, die Fahrtenhäufigkeit des ÖPNV sowie das Vorhandensein eines Anschlusses an den Schienenpersonennahverkehr (Bahnhof). Die besondere Bedeutung steht im Einklang mit den Zielen einer Nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG), ergibt sich aber auch aus der Lebensrealität vor Ort. In Ziel 11 Nachhaltige Städte und Gemeinden wird die große Bedeutung einer guten Anbindung ländlicher Gebiete an die Zentren, idealerweise mit nachhaltigen Verkehrssystemen, betont. Diesem Ideal folgend, sollte neuer Wohnraum möglichst in verkehrsgünstigen Kernorten geschaffen werden. So können die Wege bei der Wahrnehmung oberzentraler Funktionen kurzgehalten werden, und es wird ein Fokus auf die Nutzung der vorhandenen Infrastruktur gelegt. Aus diesem Grund wurde allen Kernorten mit SPNV-Anschluss pauschal ein Punkt gutgeschrieben.

Deutlich wichtiger als die reine Existenz einer Anbindung ist jedoch ihre Ausgestaltung. Dabei wurde die Fahrzeit und die Fahrtenhäufigkeit bewertet. Die Höchstpunktzahl für die ÖPNV-Fahrtzeit erhielten Orte, von denen aus das nächste Oberzentrum in 20 Minuten ohne Umsteigen erreicht werden kann. So wird sichergestellt, dass BewohnerInnen neuer Wohngebiete inklusive eines pauschalen Zuschlags zum Erreichen des Haltepunkts (10 Minuten) innerhalb einer halben Stunde Leipzig oder Halle (Saale) erreichen können. Aufgrund der großen Bedeutung des ÖPNV für die BewohnerInnen sowohl aus ökologischer und sozialer Perspektive wurden hier bis zu 5 Punkte vergeben. Zusätzlich bekamen Orte mit mehr als zwei Direktverbindungen je Stunde ins nächste Oberzentrum 3 Punkte angerechnet. Um der Lebensrealität vor Ort Genüge zu tun, wurden ebenfalls bis zu 3 Punkte für die Erreichbarkeit mit dem motorisierten Individualverkehr vergeben, die Grenze für die Höchstpunktzahl lag auch hier bei 20 Minuten Fahrtzeit. Während die Daten für den Individualverkehr von einem Routenplaner abgerufen wurden, stammen die Informationen zum ÖPNV aus dem Fahrtenplaner des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes. Als Abfahrtszeit wurde jeweils Montag, 10 Uhr, und als Ziel der Hauptbahnhof des nächsten Oberzentrums angegeben.

Grundversorgung

Besonders wichtig für die Frage, welche Kernorte bevorzugt für neue Wohngebiete in Betracht kommen, ist die Ausstattung eines Ortes mit verschiedenen Grundversorgern. Daher entfällt ein Drittel (10) der insgesamt zu vergebenden Punkte auf diese Kategorie. Dazu zählen die Nahversorgung (max. 3 Punkte), medizinische Versorgung (max. 4 Punkte) und Bildungsinfrastruktur (max. 3 Punkte). Diese Punkte spiegeln verschiedene Aspekte der nachhaltigen Entwicklungsziele wider. Erstens wird so dem Ziel einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung genüge getan (SDG 11), indem Versorgungswege möglichst kurzgehalten werden. Zweitens wird im Einklang mit SDG 3 Gesundheit und Wohlergehen die wohnungsnahe medizinische Grundversorgung in die Erwägung neuer Wohnstandorte ebenso eingebunden wie drittens die wohnungsnahe Grundversorgung mit Bildung (SDG4).

Um die Nahversorgung abzubilden, wurde die Existenz großer und kleiner Supermärkte bzw. Discounter bewertet, ebenso wie die gesamte Verkaufsfläche. Die Daten hierfür konnten überwiegend aus dem Einzelhandelsatlas  der IHK sowie einem früheren IfL-Projekt übernommen werden. Zusätzlich wurden Datenlücken mittels Onlinerecherchen geschlossen.

Die Bewertung in der Kategorie medizinische Versorgung setzt sich aus vier Komponenten zusammen: der Anzahl der AllgemeinmedizinerInnen im Kernort, der Zahl der ZahnärztInnen, der Pflegeheime und der Apotheken. Punkte für die medizinische Versorgung wurden vergeben, wenn mindestens zwei Hausärzte bzw. ein Hausarzt und eine weitere medizinische Einrichtung im Kernort vorhanden sind. Für höhere Werte ist die Existenz medizinischer Einrichtungen neben Allgemeinmedizinern verpflichtend. So wird sichergestellt, dass eine wohnungsnahe medizinische Grundversorgung gegeben ist.

Dasselbe gilt für die Bildungsinfrastruktur. Hier wurden aus den Daten der Länder bzw. Landkreise die Anzahl und Orte von Kindertageseinrichtungen, Grund- und weiterführenden Schulen abgefragt. Dabei müssen sowohl eine Kita als auch mindestens eine Schule vorhanden sein, um Punkte für diese Kategorie zu erhalten.

Funktion im Regionalplan

Interko2 bewegt sich als Forschungsprojekt in einem komplexen System bestehender regionaler Festlegungen und Zuständigkeiten. Diesem Umstand wird auch im Prüforteansatz Rechnung getragen. In den Regionalplänen sind einzelnen Kernorten im Untersuchungsgebiet aus gutem Grund spezielle Funktionen zugeordnet. Neben Mittel- und Grundzentren werden daher grundzentrale Verbünde sowie Kernorte mit der Funktion Wohnen bzw. Tourismus speziell berücksichtigt. Für den zentralörtliche Status werden dabei bis zu 10 Prozent der gesamten Punkte in der Prüfortbewertung vergeben, für die besonderen Gemeindefunktionen wurden jeweils 0,5 Punkte vergeben.

Bevölkerungszahl

Die Bevölkerungszahl eines Gemeindeteils wird ebenfalls bepunktet. Agglomerationstheorien legen nahe, dass größere Kernorte gegenüber kleineren im Vorteil sind, z. B. durch die Möglichkeit, mehr Gewerbe und Handel anzuziehen und zu halten. Da der Erhalt vor allem der privaten Infrastruktur insbesondere im Hinblick auf die wohnortnahe Grundversorgung von besonderer Relevanz ist, werden je nach Gemeindegröße bis zu 5 Punkte vergeben.

Insgesamt wurden so 54 Siedlungskerne als Prüforte klassifiziert, davon 23 in Stufe 1, 20 in Stufe 2 und 11 in der dritten Stufe (siehe Karte). Diese Prüforte werden im nächsten Schritt mit den Erkenntnissen aus der Zusatzbedarfsberechnung (Wie viel wird benötigt?) und den Ergebnissen aus dem Partnerprojekt StadtLandNavi (Wie viele Potenzialflächen gibt es in den Orten?) zusammengebracht. Die Verteilung der Zusatzbedarfe erfolgt dann abgestuft nach der Eignung der Prüforte und deren geographischer Lage im Untersuchungsgebiet erst auf die Stufe 1, sofern dort keine Potenzialflächen mehr zur Verfügung stehen, rücken Stufe 2 und schließlich 3 in den Fokus. So kann das Projekt Interko2 die zwei entscheidenden Fragen zur Wohnflächenentwicklung in der Region Halle-Leipzig beantworten: Wie viel gebaut werden muss, sagt die Zusatzbedarfsberechung; wo? – in den Prüforten.

Bewertungstabelle für Prüforte im Projekt Interko2

Jonathan Gescher unterstützt als wissenschaftliche Hilfskraft das Interko2-Team am IfL. Er hat einen Bachelor in Geographie und Wirtschaftswissenschaften und absolviert derzeit in Halle (Saale) ein Masterstudium in den Fächern International Area Studies und Wirtschaftsrecht.

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