Fluchterfahrungen sind mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine erneut und sehr unmittelbar in unserer Gesellschaft angekommen. Sie hören nicht mit Überschreiten der Landesgrenzen auf, sondern setzen sich in der örtlichen Aufnahmegesellschaft weiter fort: Behördengänge, Wohnungssuche, Freizeitgestaltung – all diese Erfahrungen sind an konkrete Orte gekoppelt, an eine formelle und informelle Infrastruktur des Ankommens. Im Rahmen des europäischen Verbundprojekts „Alltagserfahrungen junger Geflüchteter und Asylsuchender im öffentlichen Raum – EEYRASPS “ wurden über zwei Jahre junge Geflüchtete und Asylsuchende in Leipzig, Amsterdam, Brüssel und Newcastle zu ihren Erfahrungen beim Ankommen in der Stadt befragt. Ziel war es, herauszufinden, wie die Neuankömmlinge ihren Weg in die Stadtgesellschaft finden und welche Orte und Institutionen dabei für sie von Bedeutung sind. Gespräche und Workshops mit 25 Frauen und Männern zwischen 18 und 30 Jahren gaben Einblick in ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Wünsche (mehr erfahren). Um diese individuellen Geschichten des Ankommens für die Öffentlichkeit in Leipzig zugänglich, lesbar und erfahrbar zu machen, wurde das vorhandene empirische Material ins Visuelle übersetzt.
Visuelles Übersetzen: Was ist das?
Visuelles Übersetzen bedeutet im Wesentlichen: Wörter, Stimmungen und Menschen mit ihren Beziehungen in eine visuelle adäquate Sprache zu übertragen. Ziel ist es, sie für andere erfahrbar und somit besser verständlich zu machen. Visuelle Sprache besteht unter anderem aus diesen – veränderlichen – Parametern: Zeichenstil, Zeichentechnik, Format des Informationsträgers und Layout. Für eine visuelle Übersetzung ist ein großes Einfühlungsvermögen für die betroffenen Personen und den Kontext notwendig. Deswegen gehört immer auch Recherchearbeit dazu. Dazu wird Interviewmaterial gesichtet, in Kategorien aufgeteilt, reduziert, selektiert und anschließend grafisch skizziert. Der Prozess des Auswählens aus dem Material nimmt in der Regel mehrere Monate in Anspruch. Er erfordert ein permanentes Reflektieren, Austauschen und Abwägen innerhalb des Projektteams. Die Konkretisierung des Materials umfasst zudem Fragen der Rezipierbarkeit des jeweiligen Themas. In regelmäßigen Treffen wird das vorhandene Material gesichtet, geclustert und ausgewählt. Für die visuelle Übersetzung der individuellen Geschichten und Perspektiven muss der/die Übersetzerin in der Regel die betroffenen Personen selber anhören und mit ihnen ins Gespräch kommen. Deswegen sind regelmäßige Feedback-Gespräche für den Gestaltungsprozess wichtig. Die interviewten Personen haben Gelegenheit, Rückmeldung zu ihren Entwürfen zu geben, welche dann in der Weiterentwicklung mit einbezogen werden.
Im Fall unseres Forschungsprojekts mit jungen Geflüchteten und Asylsuchenden mündete der Prozess der visuellen Übersetzung in einer komprimierten, grafischen Darstellung der ausgewählten Interviewsequenzen, die im Rahmen einer Ausstellung präsentiert werden sollten. Die für diesen Zweck angefertigten acht lichtdurchlässigen Ausstellungstafeln im Format 110 × 80 cm sind portabel und können an unterschiedlichen Orten gezeigt werden. Erstmals zu sehen waren die Poster in der Stadtteilausstellung „(Not) My City – Spielräume und Grenzen im urbanen Raum“, die im Spätsommer 2021 im Pöge-Haus im Leipziger Osten veranstaltet wurde.
© Simone Fass
Ausstellungsplakate in neuem Tab öffnen: Bild 1 / Bild 2 / Bild 3
„(Not) My City“ – eine Schaufensterausstellung im Leipziger Osten
Neben der Visualisierung des empirischen Materials in Form von Postern oder Tafeln musste die Ausstellung unter der besonderen Situation der Corona-Pandemie funktionieren. Wir entschieden uns daher für eine beleuchtete Schaufensterausstellung, die rund um die Uhr regelkonform besichtigt werden konnte.
Um eine möglichst breite Stadtöffentlichkeit zu erreichen, haben wir uns im Projektteam intensiv mit der Frage beschäftigt, wie wir einen möglichst niedrigschwelliger Zugang schaffen und die Besucher:innen aktiv in die Ausstellung einbeziehen können. In Ergänzung zu den Produkten der visuellen Übersetzung – den Ausstellungstafeln – gab es für die Ausstellungsbesucher:innen die Möglichkeit, eine außen am Schaufenster angebrachte Karte von Leipzig selbst zu gestalten. Ziel dieses Elements war es, auch die ortsbezogenen Wahrnehmungen und Emotionen der Besucher:innen sichtbar zu machen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich visuell auszudrücken. Sowohl die Aussagen der geflüchteten Gesprächspartner:innen, die in den Plakaten sichtbar werden, als auch die Aussagen der Ausstellungsbesucher:innen auf der interaktiven Karte lassen nachempfinden, wie unterschiedlich städtische Räume erlebt, wahrgenommen und bewertet werden. Die folgenden Aussagen können diese Polarität beispielhaft verdeutlichen:
„Leipzig ist eine wunderbare Sinfonie. Also die Multikultur, die verschiedenen Nationalitäten, die hier in Leipzig sind, sie machen die Stadt wunderbar, sie machen sie colorful. Leipzig ist eine Musikstadt, Leipzig ist wunderbar.”
Im Gegensatz zu dieser mit positiven Emotionen verknüpften Verbindung von lokaler Musikkultur und der Vielfalt der Bewohner:innen steht das schmerzhafte Erleben von Ausgrenzung, Alltagsrassismus und Nichtzugehörigkeit in der Gesellschaft:
„Einmal bin ich mit der Straßenbahn nach Meusdorf gefahren und ein Mann hat ’Scheiß Kopftuch‘ gesagt und dabei ausgespuckt. In der Straßenbahn waren keine Ausländer, ich war allein. Alle haben geguckt, niemand hat etwas gesagt. Jetzt habe ich Angst.“
Deutlich wurde immer wieder: Konkrete Orte im öffentlichen Raum der Stadt Leipzig wie zum Beispiel der Fockeberg, das Völkerschlachtdenkmal oder auch der Nahverkehr und die öffentlichen Parks können je nach individuellen Erfahrungen und Lebenssituationen sowohl mit positiven als auch negativen Emotionen verbunden sein. Soziokulturelle Einrichtungen wie der Verein „Mühlstrasse e.V.“ oder die „Ostwache“ werden als wichtige Anlaufstellen im Prozess des Ankommens genannt. Sie zeigen, dass Zugänge in die Stadtgesellschaft auch besonders über die Kunst und Kulturszene aktiv unterstützt werden. Darüber hinaus deutet die intensive Nutzung des interaktiven Angebots der Ausstellung darauf hin, dass es innerhalb der Stadtöffentlichkeit ein Bedürfnis gibt, mehr über die Schicksale und Perspektiven der jungen Geflüchteten zu erfahren. Die beiden Plakatwände/-scheiben wurden rege genutzt und bis in die letzte Ecke mit Kommentaren, Orten und Grußbotschaften gefüllt. Beispielhaft sei hier das folgende Feedback von Besucherinnen der Ausstellung genannt:
„Mir hat die Ausstellung gut gefallen, da die verschiedenen Beiträge mir Einblicke ermöglicht haben, die ich so noch nicht hatte. (…) Das hat die Orte für mich nochmal anders lebendig gemacht. Außerdem beschäftigt es mich, wie ich mit den Menschen, die im selben Viertel leben wie ich, mehr in Kontakt kommen kann.“
„Ich befasse mich mit der Thematik eher distanziert und war umso mehr erschrocken und traurig, was ich über die Einzelschicksale gelesen habe, ihre Wahrnehmung von Gerüchen und Essen, verbissene Gesichter usw. Ich hatte manchmal Gänsehaut und werde zukünftig offener und herzlicher sein, habe ich mir fest vorgenommen.“
Simone Fass ist Grafikdesignerin und Illustratorin. Sie arbeitet als visuelle Übersetzerin seit 2007 vor allem im Bereich Bildung, Inklusion und Kultur. Sie glaubt fest daran, dass Bilder Kommunikation besser machen können.
Karin Wiest ist Senior Researcher in der IfL-Forschungsgruppe „Geographien der Zugehörigkeit und Differenz“. Sie interessiert sich für Fragen der Stadtentwicklung und das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft.