Kritische Militärgeographie „Made in Poland“ – Erfahrungen aus einem Forschungsprojekt in sensibler Umgebung

Sensible Forschungsumgebungen gibt es in der Humangeographie viele. Ob Diamantenhandel, Zigarettenschmuggel, Abtreibungsmobilität oder carceral geographies (Bruns, Henn 2022: 116), eines verbindet diese Forschungsthemen: Der Zugang zu Informationen, zu Personen, zum gesamten Forschungsfeld ist erschwert und geht mit vielerlei Herausforderungen einher. Diese können zum Beispiel die Aspekte Sicherheit, Legalität oder Zugehörigkeit berühren. Auch das Militär kann ein „sensitive research topic“ sein. Anhand meiner Feldforschung mit militärischen Akteuren in Polen möchte ich die Gründe dafür zeigen, welche Schwierigkeiten sich daraus ergeben und wie diese (zumindest teilweise) umschifft werden können.

Seit rund zwei Jahren beschäftige ich mich in meinem von der Volkswagenstiftung geförderten Projekt „‚Wir wollen vorbereitet sein‘ – Zur paramilitärischen Herstellung von Sicherheit in lokalen sozialen Kontexten in Polen“ mit Militarisierungsprozessen im Nachbarland. Mich interessiert, wie solche Entwicklungen vor Ort konkret ablaufen, wie sich dadurch das Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft verändert und welche Rolle Emotionen bei der Durchführung militärischer Praktiken im Alltag spielen.

Im Projektantrag hatte ich neben der Literaturrecherche und Dokumentenanalysen leitfadenzentrierte Interviews mit Akteuren vor Ort und teilnehmende Beobachtungen vorgesehen. Bisher habe ich mit Mitgliedern paramilitärischer Jugendorganisationen gesprochen, Interviews mit einem ehemaligen Berufssoldaten geführt, der heute als Privatunternehmer Kurse in militärischen Verteidigungstechniken für Kinder, Jugendliche und Erwachsene anbietet. Und ich habe selbst an einem „offenen Schießtraining“ teilgenommen. Bei den Feldstudien bin ich nach und nach auf immer neue Fallstricke und Schwierigkeiten gestoßen. Über einige davon will ich hier berichten.

Die Teilnahme an einem „offenen Schießtraining“ war Bestandteil der Feldstudien von Bettina Bruns im Rahmen ihrer Forschung zu aktuellen Militarisierungstrends in Polen.

Frontstaat Polen

Die Idee zu dem Projekt entstand 2018, also nach der Annexion der Krim durch Russland, und vor dem russischen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine. Als ich meinen Feldzugang anbahnte und E-Mails an Angehörige der polnischen Territorialverteidigung und paramilitärische Organisationen schrieb, war der Ausbruch des Krieges in Polens Nachbarland gerade ein paar Wochen her. Was bedeutete das für mein Forschungsprojekt? Auf der einen Seite eine Steigerung seiner Aktualität und gesellschaftlichen Relevanz; auf der anderen Seite kamen zusätzliche Hürden bei der Datenerhebung hinzu.

„Leider ist es aufgrund der organisatorischen und sicherheitstechnischen Gegebenheiten unserer Einheit sowie der aktuellen geopolitischen Lage nicht möglich, Informationen über das betreffende Forschungsgebiet in der von Ihnen vorgeschlagenen Form zu sammeln“, so die Antwort auf eine Anfrage, die ich im Juni 2022 an einen Verantwortlichen der Territorialverteidigung gerichtet hatte. Auch zeitliche Probleme und Umstrukturierungen der militärischen Einheiten wurden als Gründe für die Nichtteilnahme an meinem Forschungsprojekt genannt – immer mit Verweis auf die „aktuelle geopolitische Lage“. Wenn nur wenige Hunderte Kilometer entfernt ein realer Krieg stattfindet, wird das Militär noch mehr als ohnehin zu einer „geschlossenen Institution“ (Woodward et a. 2020: 510). Mein ursprünglich geplantes Feld war damit bis auf Weiteres unerreichbar, ich musste mir einen „Plan B“ überlegen. Der bestand in der Fokussierung auf nichtstaatliche paramilitärische Akteure und einer teilweisen Verlagerung meiner Forschung in den digitalen Raum.

„Über Politik will hier niemand sprechen“

Der andauernde Krieg in der Ukraine hat außerdem zu einer starken Politisierung militärischer Praktiken und Repräsentationen geführt. Polen fühlt sich seit Kriegsbeginn von der russischen Aggression unmittelbar bedroht, erhöht sein Verteidigungsbudget und ergreift Maßnahmen, die auf eine Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz abzielen. So soll zukünftig jede Gemeinde Zugang zu einer Schießanlage haben. Die Armee bietet kostenlos militärische Grundlagenkurse für alle Bevölkerungsteile an. Und auch Schulkinder sollen den Umgang mit der Waffe lernen. Die ohnehin starke Verbindung zwischen Politik und Militär wurde nun durch die genannten Militarisierungsbeispiele auf die Gesellschaft übertragen – mit dem Ergebnis, dass es schwierig geworden ist, über militärische Entwicklungen zu sprechen, ohne sich politisch positionieren zu müssen. Und weil die politische Stimmung in Polen vor allem wegen der populistisch regierenden Partei PiS im beginnenden Wahlkampf stark aufgeladen ist – im Herbst 2023 wählt Polen ein neues Parlament –, ist kaum noch jemand für ein Interview zu gewinnen. Die russischen Desinformationskampagnen als allgegenwärtiges Hintergrundrauschen in Polen tragen auch nicht zu einer allgemeinen Atmosphäre des Vertrauens bei. Der politische Charakter meines Forschungsthemas ist also ein Grund für seine Sensitivität.

Warum ich?

Auch aus forschungsethischer Perspektive beinhaltet mein Projekt heikle Elemente. Es ist nicht meine erste Forschung in Polen. Neben der Evaluierung einer gesundheitlichen Präventionskampagne an polnischen Schulen habe ich eine ethnographische Feldstudie über Zigarettenschmuggel im Grenzgebiet zwischen Polen und Kaliningrad im Rahmen meiner Doktorarbeit durchgeführt. Mehrere Male war ich zur Erforschung weiterer ökonomischer informeller Praktiken entlang der polnischen Ostgrenze unterwegs. Ich spreche ein passables Polnisch. Nie habe ich mich dort fehl am Platz gefühlt. Dieses Mal jedoch ertappe ich mich selbst beim Nachdenken darüber, warum eigentlich ich, eine Forscherin aus Deutschland, ohne familiäre polnische Bezüge, Wissen über die Rolle des polnischen Militärs in Polen generieren sollte.

Meine Positionalität als von außen kommende Forschende und ihre Effekte auf den Verlauf der Forschung treiben mich um. Wäre es nicht viel angemessener, eine polnische Wissenschaftlerin würde sich mit diesem Thema befassen? Fehlen mir aufgrund der vielen historischen Bezüge, derer sich das polnische Militär zur Identitätsstiftung bedient, nicht die polnische Sozialisation und Muttersprache, um dies alles umfassend analysieren zu können?

Offenbar bin ich mit solchen Zweifeln nicht allein. Ein Interview, das ich dem Magazin „leibniz“ gegeben habe, kommentierte ein Leser mit den Worten: „Eine deutsche Soziologin kümmert sich um die Nachbarn, wie schön. Gibt es in Deutschland nicht genug Baustellen, oder will man vom eigenen Elend ablenken?“ Meinungen wie diese bestärken mich allerdings in meiner Wahrnehmung, dass mein Vorhaben durchaus legitim ist – denn der Blick über den eigenen Tellerrand hat bekanntlich noch niemandem geschadet, Forschende ausdrücklich eingeschlossen!

Allein auf weiter Flur

Ich würde mich darüber hinaus freuen, wenn sich mehr Forschende in Deutschland mit dem Themengebiet der „Critical Military Geography“ beschäftigen würden, unter die auch mein Projekt fällt. Indem sich Kritische Militärgeographie mit der Rolle des Militärs in der Gesellschaft, bestehenden Machtverhältnissen zwischen zivilen und militärischen Institutionen und Verräumlichungen von militärischen Praktiken und deren Repräsentationen befasst (Basham 2015, Bachmann et al 2020), lassen sich sowohl Aussagen über die lokale Verankerung militärischer Praktiken treffen als auch Effekte von Militarisierungen über verschiedene räumliche Maßstabsebenen hinweg analysieren. Die Perspektive der Kritischen Militärgeographie ermöglicht überdies den Blick darauf, wie „große Politik“ den konkreten Alltag von Einzelpersonen mitbestimmt (siehe auch Rech et al 2015: 55).

Vor dem Hintergrund der andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa, der ausgerufenen verteidigungspolitischen „Zeitenwende“ in Deutschland und damit der neu gewonnenen Prominenz der Rolle der Bundeswehr im öffentlichen Diskurs verwundert das bisherige kaum zu spürende Interesse an kritischen militärgeographischen Fragestellungen innerhalb der deutschsprachigen geographischen Community.

So kam eine für den Deutschen Kongress für Geographie 2023 eingereichte Sitzung zu eben solchen Fragestellungen wegen einer zu geringen Anzahl von Beiträgen nicht zustande. Damit vergibt sich die deutschsprachige humangeographische Community eine Chance, dieses wichtige Thema für sich zu entdecken und Expertise zu entwickeln. Vielleicht trägt mein aktuelles Forschungsprojekt ja dazu bei, dass der kaum vorhandene wissenschaftliche Austausch zu kritischen militärgeographischen Fragestellungen in Deutschland Fahrt aufnimmt. Auch deshalb plane ich gemeinsam mit Kolleginnen aus Bonn und Freiburg im Frühjahr 2024 einen Workshop zu kritischen Perspektiven auf Militarisierung und Raum.

LITERATUR

Bachmann, Veit / Mattissek, Annika / Ruppert, Linda / Stenmanns, Julian / Vorbrugg, Alexander (2020): Kritische Militärgeographie – Anliegen und Abgrenzungen. In: Rundbrief Geographie 282: 28-30.

Bruns, Bettina / Henn, Sebastian (2022): Sensitive Topics in Human Geography – Insights from Research on Cigarette Smugglers and Diamond Traders. In: Henn, Sebastian, Miggelbrink, Judith; Hörschelmann, Kathrin (eds.): Research Ethics in Human Geography. London: Routledge: 114-132.

Basham, Victoria M. / Belkin, Aaron / Gifkins, Jess (2015): What is Critical Military Studies?Critical Military Studies, 1:1, 1-2.

Rech, Matthew / Bos, Daniel / Jenkings, Neil K. / Williams, Alison / Woodward, Rachel (2015): Geography, military geography, and critical military studies. Critical Military Studies, 1:1, 47-60.

Woodward, Rachel / Dawes, Antonia / Edmunds, Timothy / Higate, Paul / Jenkings, Neil (2020): The possibilities and limits of impact and engagement in research on military institutions. Area 52: 505-513.


Bettina Bruns ist stellvertretende Koordinatorin der Forschungsgruppe „Geographien der Zugehörigkeit und Differenz“ am IfL.

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