Arzberg in Sachsen, ostelbisches Flachland, nicht ganz zweitausend Einwohner, 19 Ortsteile, ein Einkaufsmarkt, eine Grundschule und – bis Februar 2023 – eine Hausarztpraxis. Es wird viel diskutiert über Landarztquoten, über Versorgungslücken und Medizinerinnen und Mediziner, die kurz vor dem Ruhestand stehen (Leipziger Volkszeitung, 19.9.2023). Aber was bedeutet es konkret für die Menschen in einem der periphersten Winkel des Freistaats, wenn die hausärztliche Versorgung in der Gemeinde wegfällt? Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen erlauben es uns, die veränderten Mobilitätsmuster zu erfassen und der Frage nachzugehen, wo die Arzbergerinnen und Arzberger zum Hausarzt gehen – vor und nach der Praxisschließung.
Routinedaten der Krankenkassen als Informationsquelle
Mobilität ist eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Dennoch sind Daten zur Mobilität rar. Informationen, von wo nach wo sich Menschen (theoretisch) bewegen, gibt es zumeist nur in Form von Berufspendlerdaten. Diese decken jedoch nur einen Bruchteil der Alltagsmobilität ab. Im Forschungsprojekt PeriMobil suchen wir deshalb zusätzliche Datenquellen, um die Bewegungsmuster vor Ort besser zu verstehen. Fündig geworden sind wir unter anderem bei sogenannten Routinedaten der Krankenkassen, also Daten, die diese für ihren Betrieb erheben. Dazu zählen Abrechnungsdaten. Diese enthalten sowohl die Gemeinde, in der die Praxis liegt, als auch die Wohnsitzgemeinde der Patientinnen und Patienten. Für die Quartale 3/2022 bis 2/2023 hat uns die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen diese Daten für unsere Fallstudiengemeinden Arzberg und Johanngeorgenstadt zur Verfügung gestellt. Sie geben an, wie viele Personen in den entsprechenden Quartalen einen Arzt oder eine Ärztin einer bestimmten Fachgruppe aufgesucht haben, jedoch nicht, wie oft. Da die einzelnen Patientinnen und Patienten aus Datenschutzgründen nicht identifizierbar sind, sind auch Mehrfachzählungen möglich, wenn eine Person in einem Quartal mehrere Ärztinnen oder Ärzte derselben Fachgruppe aufgesucht hat.
Das Fallbeispiel Arzberg
Im Folgenden konzentrieren wir uns auf Daten für Hausarztbesuche mit Bezug zur Gemeinde Arzberg, die sowohl die Personen enthalten, die nach Arzberg zu einer Ärztin oder einem Arzt gehen, als auch diejenigen, die in Arzberg wohnen und medizinische Versorgung in anderen Gemeinden in Anspruch nehmen. Die Daten liegen nur für Sachsen vor, Arztbesuche in Brandenburg oder anderen Bundesländern werden ebenso wie Besuche von dort nicht erfasst.
Im dritten Quartal 2022 wurden insgesamt 902 Patientinnen und Patienten aus Arzberg in den Abrechnungsdaten erfasst, davon suchten 256 einen Hausarzt im benachbarten Beilrode auf, 236 gingen nach Torgau, 124 nach Belgern-Schildau. Mit 244 Personen versorgte die Hausarztpraxis im Arzberger Ortsteil Triestewitz in diesem Quartal die zweitmeisten Arzberger Patientinnen und Patienten (27,5 %). Dazu kamen Personen aus Torgau (94), Beilrode (67) und anderen Gemeinden (27), welche zu Praxisbesuchen nach Arzberg kamen.
Im zweiten Quartal 2023 war die Hausarztpraxis in Arzberg bereits geschlossen, daher wurden auch keine einpendelnden Patientinnen und Patienten registriert. Dafür stieg die Zahl der Arzbergerinnen und Arzberger, die zu einem Hausarzt nach Beilrode fuhren, um 50 Prozent an auf 384. Auch nach Torgau (+5 %) und Belgern-Schildau (+14 %) reisten mehr Personen. Dazu kommt eine weitere auffällige Entwicklung: Während im dritten Quartal 2022 902 Personen eine Arztpraxis aufsuchten, waren es im zweiten Quartal 2023 etwa zehn Prozent weniger (818). Als Ursache kommt eine Erkältungswelle im Spätsommer 2022 (TK Gesundheitsreport 2024) infrage, die jedoch deutlich schwächer ausfiel als im ersten Quartal 2022. Auch könnten Personen neben der Praxis in Arzberg zusätzlich Ärztinnen oder Arzte in anderen Gemeinden aufgesucht haben. Dass im ersten Quartal 2023, in dem der Krankenstand deutschlandweit sehr hoch lag, dennoch etwa vier Prozent weniger einen Hausarzt aufgesucht haben als im vierten Quartal 2022 legt jedoch nahe, dass es aufgrund der Praxisschließung zu (vorübergehenden) Aufschiebungen von Arztterminen kam oder Personen ganz auf einen Hausarztbesuch verzichtet haben. Dies würde zu den Ergebnissen einer aktuellen deutschlandweiten Studie zu den Effekten von Hausarztschließungen (Monsees & Westphal 2024) passen.
Zu der Herausforderung, eine neue Praxis zu finden, kommt im ländlichen Raum die Erreichbarkeit als wichtiges Thema hinzu. Zwar sind die Fahrzeiten nach Beilrode mit zehn Minuten und nach Torgau mit 15 Minuten überschaubar, immerhin 17 Prozent der Arzberger Hausarztbesucher:innen müssen jedoch den knapp halbstündigen Weg nach Belgern-Schildau auf sich nehmen. Dazu kommt, dass Arzberg eine überdurchschnittlich alte Bevölkerung hat, die gerade für Arzttermine oftmals auf den Fahrdienst anderer, in der Regel Familienmitglieder oder des ehrenamtlichen Bürgerbusses, angewiesen sind. Die Fahrzeiten verdoppeln sich dadurch oftmals oder es müssen Wartezeiten durch die Fahrdienstleistenden in Kauf genommen werden.
hin&weg-Software als Planungshilfe
Arzberg ist kein Einzelfall. In vielen ländlichen Räumen stellt der Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten als erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen Fragen und Beschwerden ein gravierendes Problem dar. Ein genaues Verständnis der gesundheitsbezogenen Mobilitätsmuster kann Krankenkassen und Politik dabei unterstützen, Versorgungslücken zu identifizieren und die Ausweichbewegungen nach Praxisschließungen nachzuvollziehen. Die am IfL entwickelte, kostenfreie Open-Source-Software hin&weg ermöglicht solche Analysen: Komplexe Mobilitätserfordernisse in der Gesundheitsvorsorge können räumlich und statistisch abgebildet werden; die in der Anwendung implementierte Zeitauswahl erlaubt intertemporale Vergleiche und Zeitreihen, um Muster zu erkennen und zu validieren.
Hausärztinnen und Hausärzte sind der Grundpfeiler der wohnortnahen medizinischen Versorgung. Die bereitgestellten Datensätze erlauben aber ebenfalls die Analyse der Inanspruchnahme fachärztlicher Leistungen. Hier zeigt sich, dass Menschen in peripheren Gebieten teils sehr weite Wege in die Zentren (Leipzig, Dresden) in Kauf nehmen (müssen), um eine adäquate Versorgung zu erhalten. Die Visualisierung mit hin&weg erlaubt hier kartenbasiert Lücken zu identifizieren und verschiedene Facharztgruppen zu vergleichen. So kann die Software zu einer besseren Planung einer bedarfsgerechten medizinischen Versorgung gerade in ländlichen Gebieten beitragen.
Über den Autor
Jonathan Gescher promoviert am Leibniz-Institut für Länderkunde im Projekt „Post-Shrinking Towns“ zur Entwicklung von Klein- und Mittelstädten. Als Experte für quantitative Methoden war er im PeriMobil-Projekt zur Mobilität in peripherisierten Regionen für die Datenbeschaffung und Verarbeitung zuständig. Verbunden damit betreut er die hin&weg-Software am IfL und erkundet neue Anwendungsfelder für die Verflechtungsdatenanalyse – von Umzügen über Geldflüsse bis zu Krankenkassendaten.
Weitere Informationen
- zur hin&weg-Software & Download: https://hin-und-weg.online/
- zum PeriMobil-Projekt und zur Mobilität in peripheren Räumen: https://leibniz-ifl.de/forschung/projekt/perimobil
Literatur
- Monsees, D. / Westphal, M. (2024): Disruptions in Primary Care: Can Resigning GPs Cause Persistently Negative Health Effects?, CESA Working Paper Nr. 4, FernUniversität in Hagen
- Techniker Krankenkasse (2024): Gesundheitsreport 2024 – Arbeitsunfähigkeiten | https://www.tk.de/resource/blob/2168508/ee48ec9ef5943d2d40dc10a76bedf290/gesundheitsreport-au-2024-data.pdf (Abrufdatum: 29.4.2024)