„Welcher Ort in Leipzig ist wichtig für mich? Was habe ich hier erlebt? Wie sieht dieser Ort aus? Wie riecht es hier/hört es sich hier an? Und welche Gefühle verbinde ich mit diesem Ort?“ Diese Fragen standen im Zentrum von drei Storymapping-Workshops für Newcomer*innen, die wir im Rahmen unserer Forschung zu den Alltagserfahrungen junger Geflüchteter und Asylsuchender im September 2020 abgehalten haben. Wir orientierten uns dabei an der Methode der Kollektivbiografie1, die darauf abzielt, Erzählungen zu generieren, die die räumliche, sinnliche und emotionale Dimension des Erlebten einschließen.
Erfahrungen – Eindrücke – Erinnerungen
Kern unserer Idee war es, in einen Austausch zu kommen über die Bedeutungen, die Orte für Newcomer*innen in der Stadt haben, und diese zu visualisieren. Geteilt wurden unterschiedlichste Geschichten – der nicht ganz legale nächtliche Besuch einer Ruine im Osten der Stadt, die mit ihren ganz speziellen Gerüchen und Geräuschen Erinnerungen weckt an die langen Nachmittage auf einem Spielplatz in Syrien. Oder wie sich Musikstile, Stimmen und Klänge auf der Sachsenbrücke zu einer unvergleichlichen Soundcollage verbinden. Auch Erfahrungen von Rassismus kamen zur Sprache und welche wichtige Rolle Vereine und Initiativen im Ankommensprozess von jungen Geflüchteten und Asylsuchenden spielen.
Von Geschichten zur „Karte“
Durch das Teilen dieser Geschichten mit anderen entstand ein Raum des solidarischen, empathischen Zuhörens. In einem zweiten Schritt wurden diese Geschichten dann „auf die Karte gebracht“: in Form von Zeichnungen, einzelnen Worten oder ganzen Erzählungen, aufgeklebt auf Papier. Was schrittweise, von Workshop zu Workshop entstand, war das wachsende Bild einer Stadt aus der Sicht von Newcomer*innen: eine geographisch ungenaue Karte, die Mikro-Orte des Ankommens, des biografischen Erlebens und Neu-Entwerfens, der Re-Imagination des öffentlichen Raums ebenso enthielt wie all jene Dimensionen des „everyday bordering“2, dem sich junge Geflüchtete und Asylsuchende konfrontiert sehen – darunter Alltagsrassismus am Arbeitsplatz, das Erschließen der Stadt aus der räumlich peripher gelegenen Erstaufnahmeeinrichtung heraus, der Umgang mit Behörden und Bürokratie.
Die Karte wurde von Workshop zu Workshop weiter-erzählt, ergänzt, hinterfragt. Das Ergebnis: „Doing arrival“ als rhizomatischer Prozess, der von Verbindungen, Brüchen und unerwarteten Wendungen erzählt.
Wozu Storymaps?
© Munaf Al-Dulaimi (alle Fotos)
Folgendes Fazit ziehen wir bezüglich der Verbindung von Storytelling und Kartieren, wie wir sie in unseren Workshops erprobt haben: Erstens entstand hier ein dialogisch-interaktiver Raum, der den Protagonist*innen der Forschung mehr Gestaltungsmöglichkeiten bietet, als beispielsweise Face-to-Face-Interviews. So fand das Gespräch, das wir als Forschende initiiert haben, mehr zwischen den jungen Menschen selbst statt als zwischen „den Informant*innen“ und „der Wissenschaft“, was das Zur-Sprache-Bringen sensibler Themen, denken wir, begünstigte. Zweitens vermochte es allein die Präsenz der Blanko-Karte, auf der lediglich die Umrisse und Hauptachsen Leipzigs markiert waren, raumbezogene Erzählungen zu provozieren: So konnten wir empirisches Material gewinnen, das auf den Kern des HERA-Projekts abhebt, nämlich die Art und Weise, wie junge Menschen mit Fluchtbiografie den öffentlichen Raum erleben, ihn sich aneignen und mitgestalten.
Dr. Elisabeth Kirndörfer ist Mitglied der Forschungsgruppe Zugehörigkeit und Differenz am IfL. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Erforschung von Migrations- bzw. Post-Migrationsphänomenen.
Munaf Al-Dulaimi entdeckte vor mehr als zehn Jahren seine Leidenschaft fürs Fotografieren. Dem heute in Leipzig lebenden Iraker geht es vor allem darum, besondere Momente im Bild festzuhalten und zu bewahren.
1 Hawkins, R. / Al-Hindi, K. F. / Moss, P. / Kern, L. (2016): Practicing Collective Biography. In: Geography Compass 10(4). https://doi.org/10.1111/gec3.12262
2 Yuval-Davis, N. / Wemyss G. / Cassidy, K. (2018): Everyday Bordering, Belonging and the Reorientation of British Immigration Legislation. In: Sociology 52(2). DOI: 10.1177/0038038517702599