Nach fast dreijähriger Entwicklungszeit konnten wir im Oktober 2020 mit dem ornitho-Regioportal eine interaktive Webkarte unserer heimischen Vogelwelt veröffentlichen: Mit dieser Karte ist es erstmals möglich, die von Vogelbegeisterten gemeldeten Beobachtungen von Rotkehlchen (engl. robin) und rund 300 weiteren Vogelarten in der eigenen Nachbarschaft (engl. in the hood) räumlich und zeitlich zu analysieren.1
Ende November 2020 diskutierte das Projektteam die Ergebnisse des Verbundvorhabens Artenvielfalt erleben – Wie Naturforschung vor der eigenen Haustür von interaktiven Webkarten profitiert in einer virtuellen Abschlusskonferenz mit anderen Citizen Science-Projekten sowie Fachleuten aus Behörden. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie große, unsystematisch erhobene Datenmengen verarbeitet und visualisiert werden können. Thema war außerdem die Integration von Bürgerinnen und Bürgern in den Entwicklungsprozess für ein Webkartenportal. Und es ging um Aspekte der Motivation zur Beteiligung, die wir in begleitenden Forschungen untersucht haben, sowie um Fragen der Datenqualität.
Wo „Citizen Science“ draufsteht ist nicht immer Citizen Science drin
Der Tag startet mit einer „Taube auf dem Dach“. Philipp Schrögel, der am KIT Karlsruhe zu Fragen von Offener Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation forscht, betrachtete das Thema Citizen Science (CS) – passend zum Einstiegsfoto seiner Präsentation – aus einer gewissen Flughöhe. In sieben Thesen2 diskutierte er Ansprüche und Wünsche an CS seitens der Bürgerinnen und Bürger, der Wissenschaft und der Forschungsförderung. Er führte uns vor Augen, nicht jede Bürgerbeteiligung einfach als CS zu deklarieren, um einem momentanen Mainstream – auch in der Forschungsförderung – gerecht zu werden. Gleichzeitig kritisierte er den Trend, jede Wissenschaftskommunikation gleich als Bürgerbeteiligung zu werten.
Stattdessen plädierte er für eine bewusste und von Forschungsfragen geleitete Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern auf Augenhöhe. Ein erster Schritt zu guter CS bestehe darin, „vor dem Machen zuzuhören“, also die Wünsche und Werte der Zielgruppe zu erfahren und zu respektieren. Zugleich machte er aber deutlich, dass zu viel Offenheit auch ein Nachteil sein kann: „Partizipation ist voraussetzungsreich“, so Schrögel. Und manchmal bedeute weniger Offenheit mehr Offenheit – im Sinne von besserer Zugänglichkeit. Dies können wir aus unseren Erfahrungen beim Entwickeln des Webportals bestätigen. Weil uns eine einfache Nutzung für viele Interessierte sehr wichtig war, haben wir uns für wenige, aber dafür leicht zugängliche Funktionalitäten entschieden.
Anschließend diskutierten wir mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung über unsere Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Artenvielfalt-Projekt. Diese bezogen sich auf mehrere Ebenen, die Bestandteil des Verbundvorhabens waren:
Gemeinsames Forschen und Entwickeln
Wir wollten Bürgerinnen und Bürger direkt in den Forschungs- und Entwicklungsprozess einbeziehen. Das heißt, Citizen Science nicht nur im Sinne des Datensammelns zu verstehen, was bei den Ornithologen bereits seit mehreren Jahrzehnten erfolgreich praktiziert wird. Vielmehr ging es darum, die Projektziele und vor allem die Webportalinhalte gemeinsam zu entwickeln und zu evaluieren. Das geschah einerseits über ein gemeinsames Brainstorming mit Vertreterinnen und Vertretern der Ornithologen direkt zu Projektbeginn, wo Wünsche an ein kartographisches Auswertungsportal gesammelt wurden. Andererseits haben wir die Community durch Tests an Prototypen im Rahmen eines mehrwöchigen Mapping Events sowie in mehreren Testregionen in den Entwicklungsprozess einbezogen.
Usability – Motivation – Kompetenzentwicklung
Die Tests waren auch Teil der Begleitforschung, die auf eine Optimierung des Portals hinsichtlich der Nutzbarkeit für die Zielgruppe abzielte. Neben den genannten Tests wurden dafür auch Usability-Studien durchgeführt. Zum anderen wollten wir herausfinden, inwieweit sich ein Webkartenportal, das den Bürgerinnen und Bürgern Informationen zu den von ihnen erhobenen Daten auf einer regionalen Ebene „zurückgibt“, auf die Motivation und die Kompetenzentwicklung auswirkt. Mit einer Längsschnittstudie wollten wir unter anderem Veränderungen in der Motivation zur Schließung von Datenlücken ermitteln und auch messen, inwieweit sich ornithologische und Kartenlesekompetenzen durch ein Visualisierungsportal verändern. Allerdings war der für solche Untersuchungen verfügbare Zeitraum zu kurz, da Änderungen im Verhalten von Nutzerinnen und Nutzern erst Monate oder Jahre nach Einführung eines neuen Portals sichtbar werden. Die Laufzeiten von geförderten Projekten sind für solche Analysen in der Regel zu kurz bemessen, sofern sie nicht alleiniges Projektziel sind.
Daten über Daten
Große Datenmengen, die durch regelmäßige Beobachtungen tausender Bürgerinnen und Bürger täglich anwachsen, stellten uns vor eine besondere Herausforderung. Als wir das Projekt im Herbst 2016 beantragt haben, sind wir von 20 Mio. Datensätzen ausgegangen. Bis Herbst 2020 ist das Volumen bereits auf 50 Mio. Datensätze angewachsen; und die Datenmenge wächst jeden Tag weiter. Dieser Datenschatz muss im Sinne einer performanten, also schnellen Übertragung der Webkarten an die Nutzerinnen und Nutzer auf verschiedenen Skalen in Raum, Zeit und mit mehreren Inhaltsebenen vorbereitet, prozessiert und gespeichert werden.
Interpretation durch Karten
Unser Anliegen war es, die Nutzerinnen und Nutzer des Webportals durch geeignete Visualisierungen bei der Interpretation der Daten zu unterstützen. Die Darstellungen sollten ohne lange Erläuterungen klarmachen, dass es sich bei den Daten nicht um flächendeckende Monitorings und auch nicht um statistische Daten handelt. Vielmehr sollte auf einen Blick erkennbar sein, das man es mit partizipativ gewonnenen, lückenhaften Erhebungen zu tun hat, die bestimmte Aussagen erlauben, andere Aussagen aber eben gerade nicht ermöglichen.
Nach Abwägung aller, teils einander ausschließenden Anforderungen haben wir uns für eine in der Community übliche, rasterbasierte Darstellung der gemeldeten Vogelvorkommen entschieden. Diese haben wir mit einer neuen Ebene verknüpft, die die Meldeaktivität je Rasterzelle in dem jeweils ausgewählten Zeitraum visualisiert und so die Interpretation der Vorkommen im Hinblick auf Datenlücken erst möglich macht. In den meisten Fällen kann nun eine Aussage mit höherer Wahrscheinlichkeit getroffen werden, ob bei fehlendem Punkt eine Art nicht gemeldet wurde, weil sie dort nicht vorkommt, oder ob keine oder zu wenige Beobachtungen für ein bestimmtes Gebiet vorliegen. In diesem Fall soll die Karte auch dazu anregen, dort einmal die Vogelwelt zu erfassen.
Technische Umsetzung
Eine große Herausforderung war die programmiertechnische Umsetzung der zahlreichen Ideen und Wünsche. Bereits in einem Vorgängerprojekt – Demokratisierung von Expertenwissen (3) – hatten wir theoretisch herausgearbeitet, dass es für die Umsetzung komplexer Webkartenanwendungen umfassende Programmierkenntnisse, ausreichend Zeit und ein hohes Maß an Kompromissfähigkeit und Pragmatismus braucht. Dass sich bislang niemand dem wachsenden Bedarf der Ornitho-Community nach regionalisierbaren Karten angenommen hatte, lag sicher in der zunehmenden Ungeduld der Nutzerinnen und Nutzer. Die Erwartung extrem kurzer Ladezeiten kann bei sehr großen und dazu komplexen Datenmengen nicht immer oder nur mit großen technologischen Aufwand erfüllt werden.
Mit einer Kombination aus einem Data Cube, der die Beobachtungsdaten mehrdimensional zugänglich macht, einer lokalen Datenbank, die nur jene Informationen enthält, die für die Visualisierung relevant sind, und einem Mapserver, der die Anfragen an das Portal als Bild zügig zurückgibt, haben wir ein Webportal entwickelt, dass zumindest mit den aktuellen Datenmengen kurze Ladezeiten und damit Spaß beim virtuellen Entdecken der Vogelwelt verspricht.
Gebündelte Kompetenzen
Das Vorhaben profitierte wesentlich von unserer engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA) und dem Leibniz-Institut für Wissensmedien. Als Zusammenschluss aller landesweiten und regionalen ornithologischen Verbände in Deutschland vertritt der DDA rund 11.000 Feldornithologen und Vogelbeobachter. Über das Portal ornitho.de sind seit 2011 über 50 Mio. Datensätze aus Vogelbeobachtungen zusammengekommen, die in vollem Umfang in die Entwicklung des ornitho-Regioportals eingeflossen sind. Das Leibniz-Institut für Wissensmedien erforscht, wie digitale Medien Wissens- und Kommunikationsprozesse beeinflussen und wie neue Technologien eingesetzt werden können, um diese Prozesse zu verbessern. Hier am IfL verfügen wir unter anderem über langjährige Kompetenzen und Erfahrungen in der Visualisierung raumbezogener Inhalte und forschen zur gesellschaftlichen Bedeutung von Karten.
Das Verbundvorhaben wurde vom Förderbereich Bürgerforschung des BMBF finanziert und im Oktober 2020 als offizielles Projekt der „UN-Dekade Biologische Vielfalt“ ausgezeichnet.
Dr. Jana Moser ist Leiterin der Abteilung Kartograhie und Visuelle Kommunikation und koordiniert den Forschungsbereich Geovisualisierungen am IfL.
1 Siehe auch: König, Christopher / Wahl, Johannes / Delaloye, Gaëtan / Geidel, Sebastian / Hoyer, Tom / Moritz, Julia / Moser, Jana / Schwan, Stephan (2020): Ornitho-Regioportal: Verbreitung vor der eigenen Haustür. In: Der Falke 12/2020, S. 44–48.
2 Schrögel, Philipp / Rühland, Svenja / Fischer, Caroline / Göbel, Claudia / Heimstädt, Maximilian / Humm, Christian / Rösener, Ringo / Rössig, Wiebke / Röwert, Ronny / Siegers, Markus / Thieleis, Ines (2020): Von Offener Wissenschaft zu Zugänglicher Wissenschaft ⁄ Diskussionspapier. DOI: 10.5281/zenodo.3911600.
3 Hoyer, Tom (2019): Raumkonstruktionen im Web 2.0 erkennen, bewerten und reflektieren. Über technische Möglichkeiten und soziale Praktiken im Umgang mit nutzergenerierten Webkarten. Dissertation. Universität Duisburg-Essen.
Moser, Jana (2018): Neogeographie – Über Chancen und Herausforderungen für die kartographische Forschung. In: KN (Kartographische Nachrichten: Journal of Cartography and Geographic Information) 68 (3), S. 113–119.