Von den Grenzen einer aktiven Zivilbevölkerung

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat Europa und die Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Im Zuge dieser zivilisatorischen und humanitären Krise zeigt sich einmal mehr die wichtige Rolle einer aktiven und solidarischen Zivilgesellschaft, sowohl im Konfliktgebiet als auch in den Drittstaaten. Zudem erfährt auch die Auseinandersetzung mit Territorien und Staatsgrenzen eine Art Renaissance mit noch nicht abzusehenden Folgen. Dass ziviles Engagement allerdings nicht immer von inklusiven und humanitären Motiven getragen wird, zeigen die sogenannten Grenzgänge an der deutsch-polnischen Grenze.

Dieser Beitrag ist im Rahmen meines studienbegleitenden Praktikums am Leibniz-Institut für Länderkunde in der Forschungsgruppe Geographien der Zugehörigkeit und Differenz entstanden. Er versucht, diese Form ziviler „grenzsichernder Maßnahmen“ näher zu charakterisieren und einzuordnen.

Verwaiste Infrastruktur am Grenzübergang Schwedt – Krajnik Dolny (© Christoph Creutziger)

Praktiken nichtstaatlicher Akteure in Grenzregionen

Nichtstaatliche Akteure in Grenzregionen sind kein neues Phänomen, auch das IfL hat gemeinsam mit der TU Dresden bis vor kurzem im Projekt (Un-)Sicherheit an der Schengen-Binnengrenze zu sicherheitsbezogenen Praktiken staatlicher und nichtstaatlicher Akteure an der deutschen Grenze zu Polen geforscht. Dabei standen insbesondere die diskursiv hergestellten Bezüge zwischen Grenze und Unsicherheit sowie daran anknüpfende Aushandlungen von Motivationen und Legitimationen ziviler Sicherheitspraktiken in lokalen Kontexten im Mittelpunkt. Während die erlebten Diebstähle und Einbrüche von den Einwohner:innen zwar als ein grenzüberschreitendes, aber dennoch lokales Kriminalitätsphänomen wahrgenommen und als unmittelbare Bedrohung empfunden werden, erweitert die jüngst beobachtbare Praxis der „Grenzgänge“ das Feld der Aushandlung von Grenze und (Un-)Sicherheit.

Grenzgänge – rechtsextrem initiierte Grenzpatrouillen

Diskursiver Bezugspunkt der „Grenzgänge“ stellen die Migrationsbewegungen über die sogenannte Belarus-Route im Spätsommer/Frühherbst 2021 dar. Durch die gezielte Aufnahme von Flüchtenden aus Vorder- und Zentralasien und dem nachfolgenden Transit an die Grenze der EU entwickelte sich eine sowohl humanitäre als auch politische Krise. Während der polnische Staat mit zum Teil menschenrechtsverletzenden Praktiken den Übertritt der Flüchtenden zu verhindern versuchte, Stichwort: Pushbacks, wurden die Folgen dieser Entwicklungen in Deutschland zunächst zeitlich versetzt sichtbar. Erst mit der Zunahme der Grenzübertritte von Flüchtenden an der deutsch-polnischen Grenze ab Oktober 2021 stieg die politische und mediale Aufmerksamkeit rasant an.

Während im öffentlichen Diskurs um die Positionierung Deutschlands innerhalb dieses Konflikts gerungen wurde, nahmen sich verschiedene Bewegungen aus dem rechten Spektrum dieser Problemlage auf besorgniserregende Art und Weise an. Rechtsextreme Gruppierungen wie die Kleinstpartei Der III. Weg oder die Aktionsgruppe Zittau riefen aufgrund der aus ihrer Sicht defizitären Sicherheitslage zu zivilen Bürgerpatrouillen an den Grenzabschnitten auf, um Migrationsbewegungen „aufzuklären“ und damit die Grenze zu „sichern“. Aufgrund der stark politisierten und offen rassistischen Motivationsstrukturen sowie der überregionalen Mobilisierung dieser bürgerwehrähnlichen Zusammenschlüsse stellen diese „Grenzgänge“ ein Novum sicherheitsbezogener Praktiken dar. Entsprechend deutlich fiel auch die Reaktion eines Großteils der politischen Öffentlichkeit sowie der Polizei aus. Es folgte eine deutliche Distanzierung zu diesen Aufrufen sowie erhöhte polizeiliche Präsenz im Rahmen des ersten zentral organisierten „Grenzgangs“ inklusive Festnahmen. Trotz dieser Reaktion und der sich anschließenden medialen Aufarbeitung folgten bis Ende November weitere dokumentierte Patrouillen, welche allerdings weit weniger stark den Weg in die Öffentlichkeit fanden. Ähnlich zu den im weiteren Jahresverlauf auftretenden Corona-„Spaziergängen“ waren diese viel mehr von Dezentralität geprägt und wurden über Messangerdienste wie Telegram organisiert und propagiert.

Die Grenze als Aushandlungsort politischer Positionen

„An den Grenzübergängen der Region zu einem Großteil gespenstische Stille, verwaiste und rückgebaute Grenzanlagen prägen das Bild. Doch heute werden diese Übergänge mit behutsamem Auge durch wachsame Bürger besetzt.“ (Telegramgruppe „Aktionsgruppe Zittau“, 18.11.2021)

Die von den Akteuren in den sozialen Medien veröffentlichten „Grenzgängerberichte“ geben Einblick in die zugrundeliegenden Motive, Legitimierungen sowie ihr generelles Verhältnis zur Grenze. Basierend auf einer qualitativen Analyse der Telegram-Gruppen kann herausgearbeitet werden, dass die Grenze nicht nur Aushandlungsort für lokale Sicherheitsbelange und alltagsweltliche Erfahrungen ist, sondern im besonderen Maße auch Instrument zur Adressierung politischer und ideologischer Positionen jenseits lokaler Verankerung. Insbesondere migrationspolitische Themen und das Verhältnis zu staatlichen Institutionen werden im Rahmen der „Grenzgänge“immer wieder thematisiert.

"Es ist eine lauschige Vorwinternacht an der Neiße. Die Temperaturen sind nahe am Gefrierpunkt, an den Ufern der Neiße steht der Nebel tief. Beste Bedingungen für das Heer der täglich einfallenden illegalen Einwanderer und ihrer Helfershelfer.“ (Telegramgruppe „Aktionsgruppe Zittau“, 18.11.2021)

Zusätzlich werden Themen wie beispielsweise Naturschutz gezielt genutzt, um über eine Verschneidung die skizzierte Bedrohungskulisse zu verstärken und ideologisch zu untersetzen. Im Vordergrund steht dabei die Betonung einer das nationale Kollektiv bedrohenden, aber dennoch abstrakten Gefahr, die vom Grenzübertritt der Migrant:innen ausgeht, und nicht die Adressierung lokaler Sicherheitsaspekte. Legitimiert werden die „Grenzgänge“ mit der angeblich fehlenden staatlichen Sicherheitspräsenz im Grenzgebiet wie auch mit der Verortung des eigenen Handelns innerhalb gesetzlicher Vorgaben beziehungsweise durch die Selbstbeschreibung als Rechtschaffene Bürger:innen.  

Rechtsextreme Akteure an der Grenze – ein ausschließlich temporäres Phänomen?

Mit der teilweisen Entspannung der außenpolitischen Lage an der EU-Außengrenze zum Ende des Jahres 2021 und den dadurch bedingten Rückgang der Migrationsbewegungen verringerten sich auch die zumindest öffentlich dokumentierten Aktivitäten der rechtsextremen Bewegungen an der deutsch-polnischen Grenze. Begleitet wurde diese Entwicklung von einer zunehmenden Verschiebung der politischen Schwerpunktsetzung hin zur Kritik an den staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen. Die jüngsten Entwicklungen in Osteuropa und der Umgang mit diesem Krieg innerhalb der rechtsextremen Szene in Deutschland weisen allerdings daraufhin, dass Akteure aus dem rechten Milieu weiterhin in der Aushandlung von Sicherheit an Staatsgrenzen eine Rolle spielen werden. Neu geführte Debatten über Territorialansprüche und Aktivitäten, die das staatliche Gewaltmonopol infrage stellen, sind schon heute zu beobachten. Hier erfordert es auch in Zukunft neben dem konsequenten Wirken staatlicher Institutionen wiederum eine starke Zivilgesellschaft, die diesen Aktivitäten geschlossen entgegensteht und die Grenzen zivilen Engagements klar aufzeigt.


Sascha Rentzsch studiert Raumentwicklung & Naturressourcenmanagement im Master an der TU Dresden. Von März bis April 2022 absolvierte er am IfL ein studienbegleitendes Praktikum in der Forschungsgruppe Geographien der Zugehörigkeit und Differenz. Der hier veröffentlichte Beitrag entstand im Rahmen seiner Mitarbeit im DFG-Projekt (Un-)Sicherheit an der Schengen-Binnengrenze.

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