Können und dürfen Wissenschaftler:innen die Mobilitätswende aktiv mitgestalten, ohne ihre wissenschaftlichen Qualitätsansprüche aufzugeben?

„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ (§5 GG, Abs. 3,1). Diese im Grundgesetz garantierte Wissenschaftsfreiheit entspringt unter anderem der Überzeugung, dass Forschung und wissenschaftlich gewonnene Erkenntnis für gesellschaftliche Weiterentwicklung fundamental und unabdingbar ist. Allerdings ist diese Freiheit nicht grenzenlos und ins Belieben der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gestellt, sondern setzt ein allgemein akzeptiertes Verständnis von wissenschaftlicher Betätigung voraus. Dessen Kernbestandteil ist eine fundamental wirkende Qualitätskontrolle, deren wichtigstes Prinzip Transparenz oder anders gesagt: die vollständige Nachvollziehbarkeit der einzelnen Schritte auf dem Weg zum Ergebnis ist.

Für unsere Frage, wie und wie sehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen aktiv werden können, ist diese radikale Qualitätskontrolle zentral. Sie ist konstitutiv für Wissenschaft.

Wenn der zweite Mobility Talk es für nötig erachtet, über die Legitimität eines auf die Veränderung der sozialen Wirklichkeit abzielenden wissenschaftlichen Engagements zu diskutieren, liegt das daran, dass in der aktivistischen Forschung eine Grenze dieses Verständnisses berührt oder vielleicht sogar überschritten wird.

Beim zweiten Mobility Talk des Leibniz-Forschungsnetzwerks Mobilität am 13. März 2023 im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) diskutierten (v .l.) Dagmar Simon, Sebastian Lentz und Katja Diehl zum Thema „Mobilitätswende aktiv gestalten – was darf, kann und soll Wissenschaft tun?“. Die Gesprächsleitung hatte Andreas Knie. © WZB

Wann und wie also dürfen, sollten oder müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich aktiv in die Veränderung der Gesellschaft einbringen? Zur Beantwortung dieser Frage erscheint es hilfreich, Wissenschaft, d.h. vor allem die öffentlich geförderte Wissenschaft als ein funktionales Subsystem der Gesellschaft zu betrachten. Dieses Subsystem zeichnet sich dadurch aus, dass es nach der Eigenlogik von „Wahrheit“ oder Wahrheitssuche handelt. Dabei ist Wahrheit ein öffentliches Gut, das die Gesellschaft als Ganzes offensichtlich nicht ohne weiteres selbst erzeugen oder ermitteln kann. Dafür sind verschiedene Gründe anzunehmen: z.B. Wahrheitssuche braucht Zeit, oder allgemeiner: mehr Ressourcen, als die Gesellschaft in ihrem kollektiven Alltag gemeinhin aufzubringen gewillt ist.

Die Ausgliederung eines funktionalen Teilsystems zur Wahrheitssuche beinhaltet also auch den Auftrag, die Gesellschaft zu informieren, dazu mehr oder anderes als das schon in einer Gesellschaft vorhandene Wissen zu erarbeiten und neue Informationen zur Diskussion zu stellen. Das Subsystem Wissenschaft hat seine Befunde mit der Gesellschaft zu teilen.

In einem ganz konventionellen Sinne arbeitet Wissenschaft ständig an der Erschütterung von etablierten Gewissheiten, auf denen eine Gesellschaft ihre Funktionszusammenhänge aufbaut. In diesem Sinne ist Wissenschaft potenziell auch immer unbequem und spröde. So kann es notwendig werden, nicht nur Befunde mitzuteilen, sondern auch über deren Anwendung oder sogar Umsetzung zu beraten. Sollte Wissenschaft die sichere Erkenntnis haben, dass Gesellschaft handeln muss, um Schaden von sich abzuwenden, hat sie auch eine moralische Pflicht, eine bestimmte normative Position zu vertreten und sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Das durch Forschung gewonnene Wissen über die vom Menschen verursachten Veränderungen des Weltklimas ist dafür ein prominentes Beispiel.

Die fundamental zugesicherte inhaltliche Freiheit der Wissenschaft kann bezüglich der Transparenz/Qualitätskontrolle konsequenterweise nur durch die Wissenschaft selbst organisiert und umgesetzt werden. Die systemeigenen Ergebnisse laufend der Kritik durch Kolleginnen und Kollegen auszusetzen, Forschungsfragen kritisch zu betrachten und verantwortlich zu bewerten, ist ein Privileg des Funktionssystems Wissenschaft. Diese Selbstorganisation hat viele Effekte, von denen ich hier für die Frage, die uns heute Abend umtreibt, nur einen erwähnen will, nämlich, dass Wissenschaft und ihre Disziplinen sich ihre eigenen Referenz- und Reputationssysteme schaffen.

Betrachtet man nun die denkbaren Kontaktsituationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Beratung von „Gesellschaft“, so ergeben sich aus der selbstgesteuerten Qualitätskontrolle zwei grundsätzlich unterscheidbare Situationen, in denen das Prinzip der Transparenz umgesetzt werden muss:

Ableitung 1: Redlichkeit gegenüber allen anderen im Beratungskontext

Die Qualitätskontrolle in der Beratung von Wissenschaft verlangt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Standards guter wissenschaftlicher Praxis in die Situation des Wissensaustauschs, also die Beratungs- oder Transferpraxis übersetzen. Sie müssen ihre jeweilige Position, aus der heraus sie ihre Informationen gewonnen haben und in der sie beraten, offenlegen, und zwar bezüglich zum Beispiel

  • des Prozesscharakters der Herausbildung von Wissen und damit der Vorläufigkeit von Wissen;
  • der Perspektiven und Interessenlagen, die sie in ihrer Forschung eingenommen haben;
  • der ihnen zugänglichen und in ihrer Beobachtung berücksichtigten Quellen und Methoden – und der sich daraus ergebenden Grenzen ihrer Befunde.

Zu den Standards gehört auch, auf die Grenze zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und normativen Bewertungen, auch wenn sie forschungsbasiert sind, hinzuweisen. Außerdem gilt es, die konkreten Kommunikationssituationen, in denen Forschende Beratung leisten, und deren jeweilige Eigenlogik zu berücksichtigen, beispielsweise durch Hinweise, ob sie sich gerade als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder als Personen der öffentlichen Aufmerksamkeit äußern.

Eine Leitlinie für die gute Beratungspraxis hat beispielsweise die Leibniz-Gemeinschaft auf ihrer Mitgliederversammlung 2021 beschlossen.

Die Bedeutung von Beratung und Transfer und die für einen gelingenden Transfer diskutierten Verfahren und Formate machen deutlich, wie intensiv das Subsystem Wissenschaft mit der Gesellschaft kommuniziert – oder zumindest kommunizieren sollte. Gerade bei Beratungsprozessen mit gesellschaftspolitischer Bedeutung sind dialogische und interaktive Austauschformate eine Voraussetzung, um gesellschaftliche Teilhabe und politische Urteilsbildung zu fördern.

In diesem Zusammenhang wird die Forderung nach einem Open Science als einer prinzipiell geöffneten, für die gemeinsame Wissensproduktion offenen Wissenschaft laut. Sie wird als eine Art Gegenmodell zu dem gelegentlich immer noch vorgebrachten Vorwurf des „Elfenbeinturms“ positioniert. Interessant scheint mir, dass dieser Vorwurf, auch wenn er weniger polemisch formuliert wird, sowohl von außerhalb, aber auch innerhalb wissenschaftlicher Kreise hörbar ist.

Ableitung 2: Redlichkeit sich selbst gegenüber

Die oben erwähnte Eigenlogik von Kommunikationsformen gilt in besonderer Weise für Formate, in denen Information und Wissen in Ko-Produktion mit Interessengruppen erzeugt werden. Dazu rechne ich auch aktivistische Kontexte mit transformatorischen Handlungszielen. Nach dem oben beschriebenen Verständnis von wissenschaftlicher Betätigung ist die normative Aufladung des eigenen Tuns problematisch, das natürlich immer eine Veränderung der Gesellschaft zum Besseren will. Das transferierte ebenso wie das gemeinsam erzeugte Wissen wird moralisch aufgeladen, weil es einem Zweck dienen soll, der bereits im Vorhinein als „das Gute“ feststeht. In dieser Situation entsteht die besondere Herausforderung für Forschende, sich selbst in einer unbefangenen Art und Weise zu befragen, inwiefern hier die Grenze zwischen Forschung und normativer Interpretation überschritten ist. Die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis sehen eine solche Selbstbewertung nicht vor, da der Beobachtungsposition grundsätzlich ein Interessenkonflikt und Befangenheit unterstellt wird.

In dieser für kritische Wissenschaft typischen Situation scheint mir dringend die Diskussion geboten, wie engagierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Grenze ihrer Erkenntnisfähigkeit, in der Theoriebildung als sogenannte Blinde Flecken bezeichnet, so gut es geht umschreiben und offenlegen können, ein Vorgang, der für eine Verständigung über gesellschaftlich engagierte Wissenschaft enorm wichtig ist –  erst recht in Zeiten, in denen Wissenschaft mit dem Vorwurf konfrontiert wird, ideologisiert oder sogar „fake“ zu sein. Im Anschluss an eine solche Positionierung ist zwingend eine weitere, nach wie vor politische Frage zu klären: Auf welche verschiedenen Weisen ließe sich das Bessere denn erreichen? Und: Welche Konsequenzen haben diese Ziele? In die Diskussion um die für die Gesellschaft möglichen Lösungswege müssten dann konsequenterweise auch die Praxispartner:innen einbezogen werden.


Sebastian Lentz ist Direktor am Leibniz-Institut für Länderkunde und Inhaber der Professur für Regionale Geographie an der Universität Leipzig.

Dieser Beitrag ist in einer leicht gekürzten Version zuerst im Tagesspiegel Background erschienen.

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