Alte Gemarkungskarten als Gegenstand der Forschung

Ende März haben sich Fachleute aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen in der Königlich Schwedischen Akademie für Literatur, Geschichte und Altertümer in Stockholm im Rahmen einer zweitägigen Konferenz über die Entwicklung der Landesvermessung im Ostseeraum im 17. Jahrhundert ausgetauscht. Dabei wurden neue Erkenntnisse aus Sicht der Kulturgeographie, der Historischen Geographie, der Archäologie, der Landwirtschafts-, Umwelt- und Militärgeschichte, des Archiv- und Bibliothekswesens sowie der Denkmalpflege und des Naturschutzes vorgestellt und diskutiert.

Die Königlich Schwedische Akademie für Literatur, Geschichte und Altertümer in Stockholm (Foto: H. Porada)

Landesvermessung, Kartographie und Staatsbildungsprozess

Dank der Vermessungsanstrengungen während der unterschiedlich lange dauernden schwedischen Herrschaft haben heute viele Ostseeanrainerstaaten eine gute Quellenlage für das 17. und frühe 18. Jahrhundert, die es erlaubt, wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklungen zu untersuchen. Das vielfältige Material eröffnet verschiedenste Forschungsperspektiven, wie auch ein Vortrag aus dem Forschungsbereich Historische Geographien am IfL zeigen konnte.

Gemeinsam war allen deutschen Territorien unter schwedischer Herrschaft – Herzogtum Pommern, Herrschaft Wismar, Herzogtum Bremen mit dem Hamburger Dom und Fürstentum Verden sowie Herzogtum Pfalz-Zweibrücken –, dass ihre zivile Vermessung durch Mitglieder der Pommerschen Kommission des Generallandmesserkontors in Stockholm durchgeführt worden ist.

Das Königliche Generallandmesserkontor befand sich seit 1689 in diesem ehemaligen Lusthaus der Königin Christina in Stockholm, ehe es 1975 nach Gävle verlegt wurde. Von hier aus wurde seit der Regierung König Karls XI. die Vermessung großer Teile Nord- und Mitteleuropas organisiert. (Foto: H. Porada)

Dabei ist von insgesamt mehreren Tausend großmaßstäblichen Gemarkungskarten allein für das 17. Jahrhundert im Bereich der zivilen schwedischen Vermessungen auszugehen. Wesentliche Impulsgeber für deren Erforschung waren Staffan Helmfrid (1927–2017) und seine Schüler vom Kulturgeographischen Institut der Universität Stockholm. Das Spektrum ihrer Projekte reichte von der Kulturlandschaftspflege bis zu der gerade abgeschlossenen Arbeit an der schwedischen Nationalausgabe der älteren geometrischen Karten und Kataster. Die Ergebnisse dieses digitalen Editionsvorhabens sind Open Access verfügbar.

Die Gemarkung des Dorfes Heidelbingen im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken wurde vom schwedischen Landmesser Brynolf Hesselgren 1702 kartographisch aufgenommen. Heute gehört dieses Areal zum Zweibrücker Stadtteil Rimschweiler. (Quelle: Riksarkivet Stockholm, SE/RA/5495/#/0188:00001)

Für zahlreiche historische Territorien in Mitteleuropa hat sich in den vergangenen Jahren eine rege Forschung zu den jeweiligen frühen Landesaufnahmen entwickelt. Dabei wird den Querverbindungen zu den schwedischen Vermessungskampagnen an der Ostsee­ und Nordseeküste sowie in der Pfalz leider immer noch zu wenig Beachtung geschenkt. Eine vergleichende Betrachtung auf aktuellem Forschungsstand für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und der angrenzenden Staaten steht bislang noch aus.

Teile Pommerns, Mecklenburgs, Niedersachsens und der Pfalz kamen dank der Pommerschen Kommission des Generallandmesserkontors in Stockholm in den Genuss eines historischen Superlativs: Sie können für sich in Anspruch nehmen, die ältesten kartographisch unterlegten, flächendeckenden Kataster Deutschlands zu besitzen. Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass sowohl in Preußen als auch in Mecklenburg, in Hannover und in Bayern eine intensive Rezeption des schwedischen Vermessungswesens stattfand – vermutlich nicht erst, seitdem ihnen die schwedischen Gebiete am Ende des Nordischen Krieges zugefallen waren.

Das Baltikum, Ingermanland und Finnland wiederum hatten aufgrund des im 17. Jahrhundert erreichten Standes der schwedischen Landesaufnahme eine wegweisende Funktion für die Entwicklung der russischen Kartographie. Denn zu den wertvollsten Beutezielen des russischen Zarentums im östlichen Ostseeraum zählten neben den Karten des Landmesserkontors in Narwa und des Fortifikationskorps auch die schwedischen Landmesser selbst, die im Zuge der Kampfhandlungen mehr als einmal verschleppt und für den Aufbau des russischen Vermessungswesens eingesetzt wurden.

Aus Karten lernen

Das Ausmaß, in dem sich die Nachbarn und Konkurrenten in diesem speziellen Teil des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses beobachtet und voneinander gelernt haben, der Grad der Interaktionen, die es auch in der Sphäre der Landmesser und Kartographen grenzübergreifend – nicht nur in Kriegszeiten – gegeben hat, sind lohnende Themen für künftige Forschungen. Dabei können wir viel über die Funktion von Karten bei der Dokumentation von Landschaften, ihres Zustandes vor mehr als drei Jahrhunderten und damit auch ihrer Genese sowie ihrer speziellen, zum Teil bis heute prägenden Identität lernen. Das Regionale im weiträumigen Vergleich verstehen zu lernen, noch dazu, wenn es von einer speziellen Funktionselite wie den schwedischen Landmessern nach einheitlichen Standards dokumentiert worden ist, erscheint mit der bei der Tagung in Stockholm erörterten Quellengruppe besonders lohnenswert.


Haik Thomas Porada ist kommissarischer Leiter der Abteilung Theorie, Methodik und Geschichte der Geographie am Leibniz-Institut für Länderkunde. Seit 2020 lehrt er zudem als Honorarprofessor für Historische Geographie an der Universität Bamberg.

Literatur

Tollin, Clas (2021): Sveriges kartor och lantmätare 1628 till 1680. Från idé till tolvtusen kartor. Stockholm/Visby.

Porada, Haik Thomas (2022): Die kartographische Erfassung von Landschaften im Ostseeraum im 17. Jahrhundert als Herrschaftsinstrument des frühmodernen schwedischen Staates. In: Haik Thomas Porada et al. (Hrsg.): Landschaft – Region – Identität: Winfried Schenk zum 65. Geburtstag. Darmstadt. S. 349–377.

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