Den Alltag am Stadtrand sichtbar machen
Im Rahmen unseres DFG-Forschungsprojekts „Umgang mit Vielfalt an den gesellschaftlichen Rändern der postmigrantischen Stadt“ haben wir uns mit dem Aushandeln von Differenz im städtischen Alltag unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen auseinandergesetzt. Wir gingen der Frage nach, welche Rolle unterschiedliche soziokulturelle Herkünfte, sprich Pluralität und Diversität im Alltag spielen, wie wahrgenommene Unterschiede verhandelt werden, welche Situationen Konflikte hervorrufen und welche Lösungen dafür gefunden werden. So hatten wir zahlreiche Gespräche mit Beschäftigten in Jugendclubs, Kitas, Schulen, Bibliotheken, mit Newcomerinnen und alteingesessenen Stadtbewohnern geführt, an Arbeitskreisen und Stadtteilfesten teilgenommen und waren für Feldforschungsarbeiten in Jugendclubs, selbstorganisierten Frauencafés und Nachbarschaftshäusern unterwegs.
Unser so gewonnenes „Material“ war umfangreich: Zahllose persönliche Begegnungen, Erlebnisse und Eindrücke waren mit der Feldarbeit verbunden. Im Zuge dessen wurde der Wunsch stark, einmal nicht für die wissenschaftlichen Reviewprozesse und Konferenzen zu produzieren, sondern für die Bewohnerinnen und Bewohner, die städtischen Akteure selbst. Dabei ging es für uns auch darum, uns selbstkritisch zu fragen: Interessiert „die“ überhaupt, was wir da machen? Es sollte ein Mehrwert für die am Forschungsprozess Beteiligten entstehen.
Die internationalen Wochen gegen Rassismus, die ab Mitte März 2020 bundesweit unter dem Motto „Gesicht zeigen, Stimme erheben“ stattfinden sollten, erschienen uns als geeigneter Rahmen, um dieses Vorhaben umzusetzen. Unter dem Titel „Blicke wechseln – Miteinander (er)leben in Paunsdorf“ konzipierten wir ein kleines Ausstellungsprojekt für jenen Stadtteil, den wir als „Laborraum“ für unsere Fragestellung betrachtet hatten: die Großwohnsiedlung Paunsdorf am östlichen Stadtrand Leipzigs (Kirndörfer 2019).
Immer wieder eine Herausforderung – Forschungsergebnisse verständlich darstellen
„Blicke wechseln“ – das hieß jetzt nicht mehr nur eine „postmigrantischen“ Perspektivverschiebung vorzunehmen und Gesellschaft aus der Sicht der Migration zu analysieren. Es hieß nun für uns Wissenschaftlerinnen auch, einmal ein anderes Publikum zu adressieren. Die Ausstellung sollte unterschiedliche Wahrnehmungen des sozialen Miteinanders im Stadtteil, Gemeinsames und Trennendes, sichtbar machen, dazu auffordern, sich auf neue Erfahrungen einzulassen und ein Forum des Austauschs und der Begegnung im Stadtteil schaffen. Das vielschichtige Material so aufzubereiten, dass zentrale Botschaften erkennbar werden, ohne sich mühselig durch lange Texte lesen zu müssen, bereitete zunächst etwas Kopfzerbrechen.
Eine glückliche Fügung brachte Lauren McKown in unser Team. Als ausgebildete Fotografin konnte sie uns immer wieder dabei helfen, unsere Denk- und Sehgewohnheiten aufzubrechen. Ohne ihre Initiativen für Fotoshootings im Offenen Freizeittreff „Crazy“ und Fotomontagen, die dann im Mittelpunkt der Plakatserie standen, wäre es schwer gewesen, unsere Projektinhalte anschaulich zu vermitteln.
Als ich im Jugendclub beobachten konnte, wie sehr sich die Jungs und Mädchen darüber freuten, mit ihren Portraits ein wichtiger Teil der Ausstellung zu sein, wurde ein wichtiges, ursprüngliches Anliegen des „Postmigrantischen“ im Rahmen unseres Projekts in Erinnerung gerufen. Es ist, ganz unabhängig von wissenschaftlichen Debatten, die Sicht auf (junge) Menschen als individuelle Persönlichkeiten und Handelnde, jenseits von Zuschreibungen und Etikettierungen wie Migrant/Nicht-Migrant, Jugendlicher mit/ohne Förderbedarf, fremd/eingesessen etc.
Nach Wochen des Textens, Fotografierens und Collagierens standen unsere Plakate dann endlich fest. Sie können nur einige Eindrücke und Facetten dessen wiedergeben, was das alltägliche Miteinander, das Zusammenleben im Stadtteil ausmacht. Es sind Themen, die uns alle immer wieder beschäftigen – auch gerade jetzt unter den Bedingungen der Pandemie: Einsamkeit, Anerkennung, Angst, die überwunden werden muss, der Wunsch nach (mehr) Kontakt, Missverständnisse, Fragen des Angenommenseins und danach wie man eigentlich leben möchte. Themen, die nichts mit „Migration“, Nationalitäten oder kulturellen Hintergründen zu tun haben, aber oft auf unterschiedliche Art und Weise damit verknüpft werden.
Zusammen mit der Koordinierungsstelle Migration/Integration Paunsdorf und den „Leipziger Stadtteilexpeditionen“ wurde für den Tag der Ausstellungseröffnung ein abwechslungsreiches Programm zusammengestellt. Sowohl die partizipativ angelegten Aktionen der Stadtteilexpeditionen als auch die Kochkünste des jungen Teams von „Social Cooking“ brachten die Besucher und Besucherinnen zusammen und miteinander ins Gespräch. Der Abend fand regen Anklang, viele Akteuerinnen und Akteure aus dem Stadtteil waren gekommen, die Jugendlichen aus dem „Crazy“ ebenso wie die Seniorinnen und Senioren des Jugend- und Altenhilfevereins. Die Atmosphäre war aufgeschlossen, neugierig, zugewandt. Unsere Posterausstellung konnte so, ganz wie wir uns das gewünscht hatten, zu einem Rahmen für Austausch und Begegnung im Stadtteil werden – zumindest für einen Moment.
Wenig später war deutlich geworden, dass es eine der letzten Veranstaltungen dieser Art für Wochen gewesen war, denn im Umgang mit dem sich ausbreitenden Corona-Virus musste das städtische Leben rasch stark eingeschränkt werden. Aus einem Ort der Begegnung und des Austauschs war von einem Tag auf den anderen eine Gefahrenzone ersten Ranges geworden.
Ein Perspektivwechsel der anderen Art: Begegnung als Gesundheitsrisiko, Urbanität als Bedrohung
Die Covid-19-Krise hat sich schlagartig auf unsere Arbeit ausgewirkt. Ein Anliegen, das unserer Ausstellung zugrunde lag, nämlich urbane Nähe und Begegnungen zwischen „Anderen“ zu ermöglichen, schichten-, lebensstil- und altersgruppenübergreifenden Austausch zu fördern, entpuppte sich mit der Ausbreitung des Virus als eines der größten gesellschaftlichen Risiken. Die Ausstellung durfte kurz nach unserer Vernissage nicht mehr besucht werden, der Ausstellungsraum des Jugend- und Altenhilfevereins ist bis auf weiteres geschlossen. Er ist verwaist, wie die Spielplätze, die Schulen, die Kindergärten, Bibliotheken und Jugendclubs im Viertel – die Orte der Begegnung und des städtischen Miteinanders hatten und haben noch Pause.
Aber ohne die zufälligen körperlichen Begegnungen im Stadtraum ist jene Urbanität, mit der wir uns bislang beschäftigt haben, (noch) schwer vorstellbar. Mit der Schließung von Kitas, Büchereien, Cafés, Kinos, Bädern oder Theatern fehlen die alltäglichen Orte, an denen sich die Städterinnen und Städter zwanglos treffen, sich zur Schau stellen und an denen gegenseitige Sichtbarkeit jenseits selbstgewählter, einschränkender „Blasen“ erzeugt wird.
Die technischen Möglichkeiten, die physischen Kontakte im Alltag immer stärker reduzieren zu können, wurden in den letzten Wochen im großen Gesellschaftsexperiment zunehmend auch in jenen Bereichen getestet, die bislang stark auf einem persönlichen Miteinander fußten: etwa bei Kulturveranstaltungen, Konzerten, im Sport. Wir versuchen uns dieser neuen Aufgabe nun dadurch zu stellen, dass wir die in der Ausstellung gezeigten Poster auf der Website unseres Instituts bereitstellen (mehr erfahren).
Aber trotzdem: Auch wenn wir die Chancen der Digitalisierung gerne für uns nutzen wollen, wollen wir auf die nicht zielgerichteten, zufälligen, physischen Begegnungen im öffentlichen Raum langfristig auf keinen Fall verzichten – denn vor allem sie können uns aus unseren Filterblasenwelten herausholen und manchmal einen überraschenden Blickwechsel in Gang bringen.
Karin Wiest ist Senior Researcher am IfL. Sie interessiert sich für Fragen der Stadtentwicklung, die Ursachen und Folgen sozialer Ungleichheiten in Städten und das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft.
References:
Kirndörfer, Elisabeth (2019): Feuerlöschen im Brennpunkt? Vom Umgang mit Differenz und den Mikroordnungen des Alltags in einem Jugendclub in Leipzig-Paunsdorf. Unpublished project report, Case Study Leipzig, Leipzig.